Tagung des Zentralrats der Juden in Deutschland, um 1954. V.r.n.l.: Ewald Allschoff, Hendrik G. van Dam, Heinz Galinski, unbekannt, Jeanette Wolff. Fotoarchiv der Jüdischen Allgemeinen

75 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland

Interessenvertretung der Jüdischen Gemeinden in Deutschland
15. Juli 2025Fedor Besseler

Am 19. Juli 1950 wurde im Frankfurter Philanthropin der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Seither hat der Dachverband vielfältige Wandlungen durchlebt. Der folgende Beitrag des freiberuflichen Historikers Fedor Besseler zeichnet 75 Jahre Geschichte jüdischer Selbstvertretung nach – und erinnert dabei auch an die Brüche, Herausforderungen und Entwicklungen, die das jüdische Leben in der Bundesrepublik bis heute prägen.

Gründung am historischen Ort

Das Philanthropin in der Frankfurter Hebelstraße um 1948. Foto: Hans Sadek © Jüdisches Museum Frankfurt
Das Philanthropin in der Frankfurter Hebelstraße um 1948. Foto: Hans Sadek © Jüdisches Museum Frankfurt

Heute vor 75 Jahren konstituierte sich in Frankfurt der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ als Dachverband der Jüdischen Gemeinden. Die Gründungssitzung fand am 19. Juli 1950 im Philanthropin an der Hebelstraße statt. Das Gebäude ist heute das Domizil der jüdischen Schule, der I. E. Lichtigfeld-Schule.

Von 1804 bis zur Zwangsschließung 1942 war das Frankfurter Philanthropin eine der größten und prestigereichsten jüdischen Schulen im Deutschen Reich. Es ist gut möglich, dass die Gründerväter des Zentralrats – an der konstituierenden Sitzung nahmen tatsächlich ausschließlich Männer teil – diesen Veranstaltungsort aufgrund dessen symbolischer Bedeutung wählten: Schließlich verkörperte die Schule die Blütezeit des deutschen Judentums vor 1933.

Zum anderen dürften es pragmatische Gründe gewesen sein, die Gründungssitzung in Frankfurt abzuhalten: Die zentrale Lage, die gute Verkehrsanbindung und die Präsenz der US-amerikanischen Militärverwaltung machten die Stadt am Main für zahlreiche jüdische Organisationen und Zusammenkünfte zu einem attraktiven und sicheren Standort.

Für den Zentralrat der Juden blieb Frankfurt jedoch eine Zwischenstation. Wenige Monate nach der Gründung wurde das Sekretariatsbüro in Hamburg angesiedelt, Wohnort des ersten Generalsekretärs Hendrik G. van Dam (1906 - 1973). Im Jahr 1951 zog das Sekretariat nach Düsseldorf. Seit April 1999 hat der Zentralrat der Juden seinen Sitz im Leo-Baeck-Haus in Berlin-Mitte.

Bleiben oder gehen?

An der konstituierenden Sitzung am 19. Juli 1950 nahmen 20 Vertreter jüdischer Gemeinden und Landesverbände aus Deutschland, Vertreter der Zentralkomitees in der britischen Besatzungszone sowie Vertreter des American Jewish Joint Distribution Committee (Joint), des World Jewish Congress und der Jewish Agency teil. Mit Eliahu Livneh (1906 - 1963) war auch der in München ansässige israelische Konsul anwesend. Wichtigster Tagesordnungspunkt war die Gründung einer Gesamtvertretung der in Deutschland verbliebenen Jüdinnen und Juden.

Nach der Schoa kamen deutschstämmige und aus den osteuropäischen Ländern geflüchtete Juden nach Deutschland. Viele von ihnen ergriffen die nächstmögliche Gelegenheit, um das Land der Täter in Richtung der Vereinigten Staaten oder Israel zu verlassen. Diejenigen, die blieben, waren in ihrer politischen Vertretung doppelt separiert. Zum einen durch die Teilung Deutschlands in Besatzungszonen, zum anderen durch die Aufgliederung in Gemeinden und Komitees, letztere als Vertretungen der Displaced Persons.

Mit der Gründung des Zentralrats wurden diese Spaltungen überwunden. Die neue Interessenvertretung für etwa 20.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland wurde zur offiziellen Repräsentanz gegenüber der Bundesregierung, Behörden und ausländischen Organisationen. Der Auswanderungsdrang erfasste auch Funktionäre aus der Führungsriege des Zentralrats: So wanderte zum Beispiel Norbert Wollheim (1913 - 1998), Direktoriumsmitglied und Kläger gegen die I.G. Farben, 1951 in die Vereinigten Staaten aus. Amos Browns, Vertreter der Jewish Agency for Israel, kündigte während der Gründungssitzung des Zentralrats die Schließung der Auswanderungsbüros in Deutschland an, um den Druck auf die in Deutschland verbliebenen Juden zu erhöhen.

Kampf um Entschädigung

In den ersten Jahren seines Bestehens stellte der Themenkomplex der „Wiedergutmachung“ die dringlichste Aufgabe des Zentralrats dar. Die Kapazitäten des Dachverbands wurden fast vollständig vom Kampf um die Entschädigung der Opfer der Schoa absorbiert. Es war insbesondere Hendrik G. van Dam, Generalsekretär des Zentralrats von 1950 bis 1973, der als Jurist und Wiedergutmachungsexperte das Handeln des Dachverbands bestimmte. Immer wieder machte er auf Unzulänglichkeiten in der Konzeption des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) aufmerksam, welches dann im September 1953 vom Bundestag verabschiedet wurde. Der Zentralrat diente in diesem Zusammenhang als Konsultationspartner für die involvierten Bundesministerien.

Auch nach der Ratifizierung des BEG fungierte der Zentralrat als Korrektiv der Entschädigungspolitik. In einer Resolution vom 8. Juli 1954 wies das Direktorium darauf hin, „dass die Entschädigung der Opfer des Dritten Reiches in so schleppender Weise durchgeführt wird, dass die ordnungsmässige Abwicklung des Wiedergutmachungsprogramms in Frage gestellt wird“ (Bundesarchiv B 106 Nr. 21407/Zentralarchiv B. 1/7 Nr. 221.53). Weitere Kritikpunkte in den Folgejahren waren der Ausschluss von Antragstellenden aus dem „Ostblock“ und die drohende Verjährung von Mord beziehungsweise Massenmord, welche schließlich ausgesetzt wurde.

Legitimations- und Repräsentationskrise unter Werner Nachmann

In der Ära Nachmann, der von 1969 bis 1988 Vorsitzender des Direktoriums war, fühlten sich viele Jüdinnen und Juden, insbesondere junge Erwachsene, politisch links oder liberal eingestellte Gemeindemitglieder nicht mehr vom Zentralrat repräsentiert. Dazu trug in erheblichem Maße bei, dass Werner Nachmann der CDU nahestand, mit seiner Politik der „stillen Diplomatie“ auf einen harmonischen Interessenausgleich abzielte und es vermied, Missstände offensiv anzugehen. In den späten 1970er Jahren hatte Nachmann den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger (CDU) in Schutz genommen, der als NS-Militärrichter Todesurteile angewiesen hatte. Nach dem Tod Nachmanns im Januar 1988 stellte sich heraus, dass dieser Zinsgelder aus Wiedergutmachungszahlungen veruntreut hatte.

Neuer Politikstil und Zuwanderung

Mit der Aufarbeitung der Nachmann-Affäre, allen voran durch Heinz Galinski, Vorsitzender des Direktoriums von 1988 bis 1992, und dem neuen Politikstil von Zentralratspräsident Ignatz Bubis, gewann der Zentralrat in den 1990er Jahren an Glaubwürdigkeit und erfuhr eine bislang ungekannte Popularität. Gründe hierfür waren in erster Linie Bubis‘ pragmatisches Auftreten und seine direkte Kommunikation. In seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt hatte er etwa bei der Bühnenbesetzung 1985 im Frankfurter Kammertheater unter Beweis gestellt, dass er auch zu unkonventionellen Mitteln griff, um Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen.

Als erster Zentralratsvorsitzender durchbrach Bubis die Grenzen zwischen der jüdischen Community und der bundesdeutschen Gesellschaft. Insbesondere seine Solidarisierungen mit Einwanderergruppen während der „Baseballschlägerjahre“ in den frühen 1990er Jahren sind heute unvergessen. So besuchte er nach den Brandanschlägen auf einen von vietnamesischen Arbeiterinnen und Arbeitern bewohnten Plattenbau in Rostock-Lichtenhagen den Tatort und stellte sich hinter die Betroffenen. Auch nach dem rechtsradikal motivierten Brandanschlag in Mölln im November 1992 war Bubis vor Ort und solidarisierte sich mit der türkischstämmigen Familie Arslan, welche drei Tote zu beklagen hatte. Als Zentralratspräsident und als Politiker der FDP bezog er Stellung gegen den Asylkompromiss von CDU und SPD, der zu einer restriktiveren Asylpolitik führte.

Die Amtszeit Bubis‘ als Zentralratspräsident fiel zusammen mit der Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus den Ländern der zerfallenden Sowjetunion. Die Gemeinden und insbesondere deren Sozialabteilungen waren zunächst mit der Situation überfordert. Mehr als 200.000 jüdische "Kontingentflüchtlinge" kamen im Zeitraum 1990 bis 2005 nach Deutschland. Weniger als die Hälfte von ihnen wurde Mitglied in einer bestehenden oder neu gegründeten Gemeinde. Mit der Einwanderung einher ging ein Wandel jüdischer Identität, Kultur und Lebensentwürfe in der Bundesrepublik.

Ebenfalls in der Amtszeit von Ignatz Bubis fanden Auseinandersetzungen zwischen dem Zentralrat und den liberalen jüdischen Gemeinden statt, welche sich 1997 in der Union Progressiver Juden (UPJ) zusammenschlossen. Bubis Handeln im Umgang mit den liberalen Juden war von Ambivalenz geprägt. Er hieß das Amtieren von Rabbinerinnen einerseits nicht gut, lud die Frankfurter liberale Gemeinschaft „Egalitärer Minjan“ aber dennoch dazu ein, der Frankfurter Einheitsgemeinde beizutreten.

Diskussion mit Ignatz Bubis und Martin Walser. Foto: Barbara Klemm
Diskussion mit Ignatz Bubis und Martin Walser. Foto: Barbara Klemm

Die Amtszeit Ignatz Bubis‘ als Zentralratspräsident endete mit der Walser-Kontroverse. Der Schriftsteller Martin Walser hatte in seiner Rede in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels einen Großangriff auf die Erinnerungskultur der Bundesrepublik unternommen. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen standen Anklagen gegen eine vermeintliche „Dauerrepräsentation unserer Schande“. Gemeint war die Schoa und das Erinnern an die Schoa. Dass das Auditorium in der Paulskirche mit standing ovations auf die Rede reagierte, trug zur zunehmenden Resignation von Bubis erheblich bei.

Intensivierung der Bildungsarbeit

Charlotte Knobloch und Paul Spiegel, Jerusalem 2003. Foto: Judith Hart
Charlotte Knobloch und Paul Spiegel, Jerusalem 2003. Foto: Judith Hart

Nach der Amtszeit von Paul Spiegel (2000 bis 2006) wurde Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München, als erste Frau an die Spitze des Zentralrats gewählt. Mit Dieter Graumann amtierte in den Jahren 2010 bis 2014 ein weiterer Frankfurter an der Spitze des Zentralrats. Graumann leitete unter anderem die Intensivierung der Bildungsarbeit ein und gründete die Jüdische Akademie, welche heute von Sabena Donath und Doron Kiesel geleitet wird. Das Akademiegebäude im Frankfurter Westend soll 2026 eröffnet werden.

Der aktuelle Präsident des Zentralrats, Josef Schuster, konnte den 2003 von Paul Spiegel und Gerhard Schröder ausgehandelten Staatsvertrag erweitern und die jüdische Gemeinschaft auf ein solides Fundament stellen. Seit den Massakern vom 7. Oktober 2023 und dem sprunghaften Anstieg antisemitischer Straftaten sieht sich Schuster zunehmend in die Rolle des Mahners gedrängt.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland steht heute für eine aktive jüdische Politik, die in den Bereichen Jugend, Kultur und Bildung strukturbildend wirkt. Er vertritt heute rund 90.000 Jüdinnen und Juden in mehr als 100 Gemeinden.

Die Jüdische Akademie soll 2026 in Frankfurt am Main eröffnet werden. © Zvonko Turkali Architekten
Die Jüdische Akademie soll 2026 in Frankfurt am Main eröffnet werden. © Zvonko Turkali Architekten

Literatur

Brenner, Michael, Von den Hintertüren der Diplomatie auf die Bühne der Öffentlichkeit: Der Wandel in der Repräsentation des Zentralrats der Juden in Deutschland, in: Backhaus, Fritz/Gross, Raphael/Lenarz, Michael (Hrsg.), Ignatz Bubis. Ein jüdisches Leben in Deutschland, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, S. 124-133.
Brenner, Michael (Hrsg.), Geschichte der Juden in Deutschland. Von 1945 bis zur Gegenwart, C.H. Beck, München 2012.

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