Türkân Kanbıçak aus unserem Bildungsteam hat das erfolgreiche Bildungsprogramm "AntiAnti" am Jüdischen Museum aufgelegt. Im Interview schildert sie Ziele und Erfahrungen aus mehreren Jahren Arbeit. Die Fragen stellte Korbinian Böck.
Liebe Türkân, Du hast vor nunmehr sieben Jahren das Projekt "Anti Anti – Museum Goes School" gestartet und gehst dafür mit einem Team von Kolleg:innen an Berufsschulen in Frankfurt. In aller Kürze: Was genau ist das Ziel des Projekts?
Das kulturelle Bildungsprogramm richtet sich dezidiert an Schüler:innen der berufsbildenden Schulen. Es erstreckt sich über ein halbes Schuljahr und basiert auf vier Säulen:
- sechs Schüler:innen-Workshops, plus ein Kennenlernen-Treffen in der Schule und eine Abschlussfeier im Jüdischen Museum;
- drei obligatorische Lehrer:innen-Fortbildungen zu unterschiedlichen Themen;
- fortlaufende wissenschaftlich-qualitative Evaluation und Publikationen;
- ein Peer-Education-Konzept.
Wir arbeiten in dem Programm mit einem biografischen und personenorientierten Ansatz. Dabei thematisieren wir mit den Schüler:innen zunächst die eigenen Erfahrungen mit Rassismus, um aus dieser Betroffenenperspektive auf „andere“ Lebenslagen schauen zu können. Dazu bedarf es eines Vertrauensverhältnisses, um derart sensible Themen und Betroffenen-Erzählungen in der Gruppe besprechen zu können.
Kannst Du etwas mehr über diese Ziele erzählen?
Aus unserem personenorientierten Ansatz ergeben sich mehrere Grundziele:
- Anregung zur Selbstreflexion. Dies impliziert die Auseinandersetzung mit der eigenen und der Familienbiografie sowie eine kritische Hinterfragung der eigenen Lebenswirklichkeit.
- Hinterfragung und Analyse der eigenen Migrationsgeschichte. Diese erstreckt sich auch auf generationenübergreifende Migration. Wir geben auch Einblicke in die Zuwanderung nach Deutschland nach 1950 sowie in jüngere Migrationsbewegungen (Motive, Verläufe und Ankommen). Dabei spielt auch manchmal die Reflexion eigener Fluchterfahrungen eine Rolle, sofern das thematisiert werden kann und will.
- Sensibilität über Vorurteile und Diskriminierung sowie Rassismus. Dabei versuchen wir, eigene Vorurteilsstrukturen der Schüler:innen zu hinterfragen. Selbsterlittene Ausgrenzungs- und/oder Diskriminierungserfahrungen dienen als Aushandlungsfolie für die Lebenslage und Ausgrenzungserfahrungen anderer sozialer Gruppen, die ebenfalls von Diskriminierung betroffen sind. Die Reflexion der eigenen Diskriminierungserfahrungen fördert Empathie und Lernbereitschaft für die Situation „sozial geanderter“ Gruppen (bspw. Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle)
- Im Hinblick auf religionsbezogene Diskriminierungen geht es uns um die Vermittlung von Wissen über die Grundlagen und Gemeinsamkeiten der monotheistischen Religionen anhand der Dauerausstellung im Jüdischen Museum.
- Dekonstruktion des Begriffs „Heimat“. Das findet statt in Form einer filmischen Auseinandersetzung der Schüler:innen mit dem eigenen Stadtteil und dem, was sie persönlich als ihre Heimat bezeichnen. Denn dies ist ein wichtiger und häufig romantisch verklärter Baustein von Migrations-Identitäten.
- Kritische Medienanalyse: Dabei hinterfragen wir gemeinsam die eigene Mediennutzung, wir nehmen Social Media kritisch in den Blick, beschäftigen uns mit Filterblasen, Algorithmen und dergleichen.
- Die Entwicklung von Zukunftsvisionen, die sich sowohl auf die schulische, berufliche Laufbahn als auch auf die Ziele und Wünsche im Privaten beziehen.
- Jeder Workshop schließt stets mit einem empowernden Teil, ebenso mit Informationen zu möglichen Anlauf- und Unterstützungsstellen in schwierigen Lebenslagen.
Wie bist Du zu dem Arbeitsfeld Extremismusprävention gekommen?
Um das Jahr 2015 herum – zu der Zeit als die ersten Schüler:innen zum sogenannten Islamischen Staat ausgewandert sind – dominierte im öffentlichen Diskurs eine sehr einseitige und kurzschlüssige Ursachenzuschreibung – nämlich eine eigenwillige und politische Koranexegese. Neue ideologisch aufgeladene und undifferenzierte Feindbilder wurden etabliert. Unterschiedliche Bildungsträger haben zugleich ziemlich einseitige, d. h. auf Religion reduzierte Workshopangebote aufgelegt. Dieser Einseitigkeit wollte ich mit einem umfassenderen Bildungsprogramm entgegentreten.
Und wieso ausgerechnet an Berufsschulen?
Berufsbildende Schulen sind in ganz besonderem Maße das Spiegelbild der Gesellschaft. In diesem Mikrokosmos finden sich alle Mitglieder der Gesellschaft wider, weil die meisten Jugendlichen kurz vor dem endgültigen Übergang zur Erwerbstätigkeit eine berufsbildende Schule besuchen.
Berufsbildende Schulen leisten eine ungeheure gesellschaftliche Integrationsaufgabe, weil man dort alle Bildungsabschlüsse nachholen kann. Somit bieten sie Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg durch Bildung. Allerdings wird diese Schulform selten in der Öffentlichkeit gesehen! Das ist sehr bedauerlich und wird den großartigen Leistungen und umfangreichen Aufgaben dieser Schulform in keiner Weise gerecht! Ferner sind berufsbildende Schule in ihrem Fächerkanon häufig sehr auf berufliche Inhalte reduziert. Daher war es für mich naheliegend, diese Schulform mit diesem Angebot zu würdigen und zu adressieren!
Es gibt aber auch einen ganz pragmatischen Grund: Ich bin selbst Berufsschullehrerin und habe zehn Jahre angehende Lehrkräfte im Studienseminar ausgebildet. Daher war der „Feldzugang“ sehr einfach und sichergestellt!
Das Programm zielt auf den Abbau von Vorurteilen und Antisemitismus, Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Homophobie. Diese Dinge findet Ihr doch sicherlich auch in den jeweiligen Schulklassen vor. Gelingt es Euch mit „Anti Anti“ auch, solche Spannungen und Konflikte in den Schulklassen selbst abzubauen?
Aufgrund empathischer Biographiearbeit gelingt es uns, eine kritische Selbstreflexion anzustoßen. Manchmal fließen Tränen, wenn die Schüler:innen dramatische Erlebnisse wieder neu erzählen und somit schmerzhafte Erinnerung wieder hochkommen! Das junge und einfühlsame Team konnte das bislang stets gut auffangen. Es gibt an den großen berufsbildenden Schulen auch Sozialpädagog:innen vor Ort. Diese sitzen auch gerne in unseren Workshops und wir kooperieren natürlich mit den Lehrkräften und den Sozialpädagog:innen. In einem solchen Team ist Diversität auch sehr wichtig, denn das an sich hat einen empowernden Anteil. Die Schüler:innen nehmen diese Vorbilder dankend an und betrachten die Teammitglieder als authentische Ansprechpartner:innen.
Du hast vorher einen Peer Education-Ansatz angesprochen. Was hat es damit auf sich?
Die Erweiterung um den Peer to Peer Ansatz bildet das Sahnehäubchen des Bildungsprogramms. Die Schüler:innen, die sich als Peer Guide von uns ausbilden lassen, wachsen bei diesem pädagogischen Konzept tatsächlich über sich selbst hinaus. Das haben wir schon an einigen wunderbaren Beispielen miterleben dürfen! So haben wir z.B. einen Schüler aus einer BÜA-Klasse zum Peer-Guide ausgebildet. Er hat sich mit dem jüdischen Künstler Moritz Daniel Oppenheim intensiv beschäftigt, wesentliche Merkmale seiner Malerei und Biografie herausgearbeitet und andere Klassen zu den Gemälden von Oppenheim im Jüdischen Museum geführt. Diese Tätigkeit und Auseinandersetzungen eröffnete Horizonte, in die er ohne dieses Angebot keinen Einblick bekommen hätte. Es wird dabei eine deutliche Entwicklung der Persönlichkeit sichtbar. Die Schüler:innen wachsen an dieser Aufgabe.
Anti Anti zielt ja nicht nur auf Schüler:innen, sondern auch auf Lehrer:innen. Was bringt Ihr denen bei? Wo seht Ihr da besondere Herausforderungen und/oder Bedarfe?
Bei Anti Anti bemühen wir uns auch darum, die Lehrkräfte mit ins Boot zu holen, weil auch Lehrkräfte ihre Haltungen und Einstellungen in den Schulalltag hineintragen. Das heißt, auch hier geht es vorwiegend um kritische Selbstreflexion, eine Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen von Antisemitismus und Rassismen, aber auch um Einblicke in biografische Verläufe von Extremisten sowie das Herausarbeiten von Ursachen, die eine Radikalisierung befördern können. Wir entwickeln mit den Lehrkräften Handlungsoptionen im Kontext von dogmatischen oder bereits extremistischen Haltungen bei Schüler:innen.
Wir bieten, wie gesagt, drei obligatorische Fortbildungen für Lehrkräfte an. Die Themen sind: Demokratiebildung und Demokratiegefährdung; Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus in der Einwanderungsgesellschaft; Extremistische Biografien im Vergleich. Natürlich gehen wir auch auf die konkreten Bedarfe der Lehrkräfte ein. Wir erreichen tatsächlich nicht das gesamte Kollegium. Allerdings ist es ausreichend, wenn sich einige Lehrkräfte angesprochen fühlen und wenn diese die behandelten Themen in das Kollegium hineintragen. Es geht ja auch darum, dass wir kritische Auseinandersetzungen initiieren wollen! Wir erreichen mit diesem Programm somit einen Großteil der Lehrer:innenschaft und auch den sozialen Nahraum der Teilnehmer:innen.
Du selbst gehst ja kommendes Jahr in den Ruhestand. Wird das Projekt auch ohne Dich fortgesetzt – und vielleicht sogar von Frankfurt aus auch in andere Städte und Einrichtungen getragen?
Das Projekt wird weitergeführt, die Finanzierung ist gesichert. Ich arbeite jetzt schon meinen Nachfolger ein. Sicherlich wäre das auch für andere Städte ein schönes Angebot, allerdings haben wir hierzu momentan keine Kapazitäten. Wenn die Kultusministerien diesen Bedarf sehen, dann müssten auch entsprechende Ressourcen geschaffen werden.
Wo können sich Lehrer:innen hinwenden, wenn sie sich für das Projekt interessieren und es an ihre Schule holen möchten?
Mein Kollege und Nachfolger, Arwin Mahdavi, gibt Ihnen gerne Auskunft und nimmt Anmeldungen entgegen.
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