Blick auf die Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle Frankfurt; Foto: Norbert Miguletz

„Aber wohin? Das sagte man uns nicht.“

Über die erste Massendeportation aus Frankfurt 1941
Porträt von Heike Drummer
19. Oktober 2021Heike Drummer

Heute vor 80 Jahren, am 19. Oktober 1941, fand in Frankfurt am Main die erste Massendeportation von Jüdinnen und Juden statt, organisiert und durchgeführt von Stadtregierung, Geheimer Staatspolizei, NSDAP-Gauleitung, SA-Leuten sowie von diversen Ämtern und Behörden.

Mehr als 1.100 Menschen aus dem zumeist gutsituierten Frankfurter Westend wurden am frühen Sonntagmorgen aus ihren Wohnungen abgeholt und öffentlich durch die Stadt zur Großmarkthalle getrieben. Elf Personen schieden in ihrer Verzweiflung durch Freitod aus dem Leben.

Lina Katz, Deportationen 1941 und 1942, geschrieben 1961, in: Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden (Hg.), Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933-1945, Frankfurt am Main 1963, S. 507-508, hier S. 508.

Ich habe den Zug zur Großmarkthalle durch die Stadt begleitet, versucht, die Straßenbahn zu benutzen, aus der ich wegen meines Judensterns herausgeworfen wurde. Der Zug ging durch die Stadt am hellen Tage. Rechts und links standen die Menschen und sahen sich stumm im dichten Spalier den Zug an.

Staatlich organisierte Ausplünderung

Die Häscher brachten dabei in räuberischer Manier hochwertige Immobilien in ihren Besitz und stellten sie später nichtjüdischen Frankfurter*innen zur Verfügung. Das zur Durchführung der Deportation eingesetzte SA-Personal erstattete Meldung darüber. Die Zuständigkeit für die "Verwendung von Judenwohnungen" lag bei der NSDAP-Gauleitung Hessen-Nassau, aber auch bei der Stadtverwaltung, etwa beim Bauamt. Die Stadt Frankfurt und Teile der nichtjüdischen Stadtgesellschaft profitierten außerdem vom zurückgelassenen Besitz der Deportierten: von wertvollem Mobiliar, Bibliotheken, Kunstsammlungen, Schmuck.

Cläre von Mettenheim, 5. November 1941, aus: Amelis von Mettenheim, Die zwölf langen Jahre – eine Familiengeschichte im Dritten Reich, in: AFGK 65/1999, S. 243.

Stunden und Stunden standen die Familien da drüben. Jeder hatte ein Pappdeckelschild umgehängt (wie ein Schandschild aus dem Mittelalter), das Gepäck in der Hand, den Rucksack auf dem Rücken. Szenen, die sich nie vergessen lassen werden […]. Den ganzen Tag über dauerte das Warten, Packen, Warten – bis sie dann alle gesammelt in den Keller der Markthalle kamen.

Sammelstelle Großmarkthalle

Blick in den Keller der Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle Frankfurt; Foto: Norbert Miguletz
Blick in den Keller der Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle Frankfurt. Foto: Norbert Miguletz © Jüdisches Museum Frankfurt

Ab 1941 hatte die Geheime Staatspolizei einen Teil der Großmarkthalle von den städtischen Marktbetrieben als Sammelstelle zur Durchführung der Massendeportationen angemietet, genauer den östlichen Kellerbereich. Innenstadtnah und verkehrstechnisch günstig zwischen Hafenbahn und Ostbahnhof gelegen war die Wahl auf das markante Gebäude gefallen, das der Architekt Martin Elsaesser Mitte der 1920er Jahre entworfen hatte – "Gemieskirch" hatten es einige Frankfurter*innen nach der Einweihung 1928 getauft. Bautechnisch seinerzeit auf höchstem Niveau war die Großmarkthalle konzipiert für den modernen Handel und reibungslosen Umschlag von Obst und Gemüse: mit praktischen Laderampen, großzügig dimensionierten Kühlkellern, Bahnanschlüssen mit überdachten Gleisen und einem eigenen Befehlsstellwerk. In Komplizenschaft mit Stadt und NSDAP-Gauleitung pervertierte die Geheime Staatspolizei jetzt die Großmarkthalle und ihre Funktionalität für ihre mörderischen Ziele.

Der Keller bot Schutz vor neugierigen Blicken auf das Verbrechen und Platz für viele Hunderte Personen. Dort mussten die zu einer Deportation Gelisteten unter anderen 50 Reichsmark für den bevorstehende Transport bezahlen, Kennkarten und Wohnungsschlüssel abgeben und zum Teil demütigende Leibesvisitationen über sich ergehen lassen – allzu oft unter Einsatz von roher Gewalt.

Lili Hahn, 22. Oktober 1941, aus: Lili Hahn, Bis alles in Scherben fällt. Tagebuchblätter 1933-45, Hamburg 2007, S. 332.

Mittlerweile war es Abend geworden. Noch immer standen die Menschen zusammengepfercht wie das Vieh. Aber Tiere werden besser behandelt. Diese armen Menschen, bei denen die SA morgens um sieben Uhr eingedrungen war, hatten nicht einmal etwas zu essen oder zu trinken. Sie standen so dicht gedrängt in ihren durch dicke Seile abgetrennten Gevierten, dass immer nur einige von ihnen auf den Koffern sitzen konnten.

Nach diesen Schikanen wurden die Menschen von dem eingesetzten Personal in einen mit Matratzen ausgelegten Raum gedrängt und nach häufig stundenlangem Warten an das der Halle vorgelagerte Gleisfeld gezwungen, wo Personenzüge der Deutschen Reichsbahn für den Transport nach Lodz, wenig später in das Getto Minsk, nach Kaunas, in die Vernichtungslager Majdanek und Sobibor, in das Transitgetto Izbica, in das Konzentrationslager Theresienstadt und nach Raasiku in Estland bereitstanden. Der tägliche Großmarktbetrieb lief weiter und viele der in und bei der Halle Beschäftigten hatten Kenntnis von dem Verbrechen.

Deportation nach Osten

Am Morgen des 20. Oktober verließ der Zug mit über 1.100 Menschen das Areal der Großmarkthalle und fuhr in das Getto Lodz.

Auszug aus einem Interview, das Ursula Ernst 2009 mit Friedrich Schafranek im Auftrag des Fritz Bauer Instituts in Bobingen führte.

Die Fenster waren verklebt, damit man nicht hinausschauen konnte. Und so fuhr der Zug nun los vom Main, die Großmarkthalle steht ja am Mainufer. Aber wohin? Das sagte man uns nicht. Aber mein Papa hat am nächsten Tag manchmal aus dem Fenster geblinzelt, und da sah er Leuna. Mein Vater sagte: 'Ach, das ist auf dem Weg nach Berlin. Wenn ich nach Berlin fahre, dann muss ich da immer vorbei.‘ Von Berlin ging es weiter nach Posen, das wir am dritten Tag erreichten. Und am vierten Tag blieben wir plötzlich auf freiem Feld stehen. Die Türen wurden aufgerissen: ‚Raus!‘“

Foto von Friedrich Schafranek als junger Mann
Friedrich Schafranek gehörte zu den wenigen Überlebenden der ersten Massendeportation aus Frankfurt. In unserer Dauerausstellung erzählen wir seine Geschichte. © JMF/Sammlung Friedrich und Elfriede Schafranek

An Kälte, Unterernährung und Entkräftung durch Zwangsarbeit starben im Getto Lodz allein in den ersten sechs Monaten 200 der aus Frankfurt Verschleppten; einige töteten sich selbst. Ab Frühjahr 1942 organisierte die Gettoverwaltung mehrere „Aussiedelungen“; das waren Todestransporte mit etwa 90.000 Personen aus Lodz in das nahegelegene Vernichtungslager Chelmno. Die Opfer, darunter 5.000 Sinti und Roma, wurden dort auf die Transportflächen von umgebauten LKW, den sogenannten „Gaswagen“, gezwungen und durch einströmendes Motorabgas qualvoll erstickt. Im August 1944 löste die Verwaltung das Ghetto Lodz auf. Die dort noch verbliebenen etwa 60.000 Gefangenen wurden nach Auschwitz verschleppt. Nur drei Personen des Frankfurter Transportes vom 19. Oktober 1941 erlebten 1945 die Befreiung. Einer davon war Friedrich Schafranek, dessen Geschichte wir in unserer neuen Dauerausstellung erzählen.

Späte Erinnerung

Ab 2016 hatten es Frankfurter*innen in Eigenregie übernommen, im Westend eine würdige Gedenkveranstaltung zum 19. Oktober 1941 durchzuführen. Unter anderem wurden die Namen und Biografien von Personen vorgelesen, die von der ersten Massendeportation betroffen gewesen waren. Maßgeblich beteiligt waren seinerzeit Mitglieder der Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main e. V. und unsere frühere Mitarbeiterin Monica Kingreen (1952-2017). 

Seit 2018 erinnert die Stadt mit einem Gedenktag an das schändlichste Kapitel der Lokalgeschichte und damit stellvertretend an alle Deportationen aus Frankfurt. Bis unmittelbar vor der Befreiung durch US-amerikanische Truppen erhielten als jüdisch verfolgte Personen in Frankfurt noch Aufforderungen zur Deportation; zuletzt waren es Partner*innen und Kinder aus konfessionell gemischten Verbindungen.

Heike Drummer

 

Literaturauswahl

Heike Drummer: »… bis sie dann alle gesammelt in den Keller der Markthalle kamen«. Zeuginnen und Zeugen der Deportationen aus Frankfurt am Main, in: Raphael Gross/Felix Semmelroth (Hg.): Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle. Die Deportation der Juden 1941-1945, München/London/New York 2016, S. 89-136.

Jüdisches Museum Frankfurt (Hrsg.): »Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt …«. Deportationen aus Frankfurt am Main 1941 bis 1945, Frankfurt am Main 2005.

Monica Kingreen (Hg.): »Nach der Kristallnacht«. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938-1945, Frankfurt am Main/New York 1999.

Monica Kingreen: Die Großmarkthalle und die gewaltsame Verschleppung der jüdischen Bevölkerung Frankfurts und des Regierungsbezirks Wiesbaden ab 1941 bis 1945, in: Raphael Gross/Felix Semmelroth (Hrsg.): Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle. Die Deportation der Juden 1941-1945, München/London/New York 2016, S. 153-194.

Schlagwortsammlung

Kommentare

es ist einfach nur zum Weinen- sonst nichts- und daß es noch keine Kommentare dazu gibt, ist noch schlimmer- der Weg der Juden ging am Sonntag und etwas Sonnenschein( ! ) durch die ganze Stadt: Bockenheimer Ldstr. Opernplatz, Zeil, Konsti und überall standen sie Spalier und keiner hat was gesehen- ich schäme mich !

08.11.2021 • paula mishan

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