Innerhalb von elf Monaten ab dem 19./20. Oktober 1941 organisierten Geheime Staatspolizei, SA, Schutzpolizei und städtische Behörden zehn Massendeportationen, bei denen etwa 10.000 Frauen, Männer und Kinder von der Großmarkthalle „nach Osten“ in Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt wurden. Heute erinnert Heike Drummer, unsere Kuratorin für Zeitgeschichte, an die drei sogenannten „Alterstransporte“ und die Beendigung der Massendeportationen am 24. September 1942.
Theresienstadt, 18. August 1942

Der 18. August 1942 fiel auf einen Dienstag, und es war hochsommerlich heiß. 1.020 vornehmlich ältere als jüdisch verfolgte Personen wurden von der Großmarkthalle in das Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Mehr als die Hälfte von ihnen wohnte bis dahin in den jüdischen Altersheimen. Als Sammelplätze für das Verbrechen dienten die Heime Rechneigrabenstraße 18-20 und Hermesweg 5-7. Gehbehinderte brachte der Leichenwagen der Jüdischen Gemeinde in diese Einrichtungen. Auch Margarete Cahn, die hochbetagte Mutter des bekannten Rechtsanwalts Max L. Cahn, gehörte zu den Frauen, die notdürftig versorgt in der Rechneigrabenstraße ausharren mussten. Unmittelbar vor der Deportation gelang es ihr noch eine Postkarte an die Familie zu senden. Einen Monat nach der Ankunft im Lager wurde Margarete Cahn ermordet.
Margarete Cahn, 19. August 1942 (Poststempel)Bin wohl, aber sehr müde. Nochmals viel Liebes für Euch Alle! Hoffen wir das Beste!
Elf Personen starben bereits während der eintägigen Fahrt nach Theresienstadt. Bei großer Hitze kam der Zug dort an. Gemäß den Aufzeichnungen eines Häftlings wurden die Frauen vor Ort nackt inspiziert und nach Wertsachen durchsucht. 17 Personen dieser Deportation erlebten im Mai 1945 die Befreiung.
Theresienstadt, 1. September 1942
Bald schon fuhren weitere Züge der Deutschen Reichsbahn „nach Osten“. Die Deportationsliste für Theresienstadt vom 1. September führt 1.109 Namen auf. Betroffen von der achten Massendeportation waren über 65-jährige Frauen und Männer, gebrechliche Personen über 55 Jahren sowie die Versehrten und Träger hoher Auszeichnungen des Ersten Weltkrieges aus Frankfurt sowie aus Wiesbaden und den Landkreisen des Regierungsbezirks Wiesbaden. Die benachrichtigten Jüdinnen und Juden aus den Landkreisen trafen spätestens am 29. August 1942 am Frankfurter Hauptbahnhof ein. Von dort mussten sie sich zu Fuß in das Jüdische Altersheim in der Rechneigrabenstraße quälen. Wer nicht gehfähig war konnte mit Ausnahmegenehmigung die Straßenbahn benutzen oder wurde mit einem LKW abgeholt. Der Fahrpreis musste aus eigener Tasche entrichtet werden. 32 Personen dieser Deportation erlebten die Befreiung.
Theresienstadt, 15. September 1942
Am 15. September 1942 folgte die neunte Massendeportation nach Theresienstadt mit 1.378 Jüdinnen und Juden. Es waren wieder überwiegend ältere Frauen und Männer. Unter ihnen war auch die 79-jährige Marie Pfungst, Unternehmerin (Naxos-Union), Frauenrechtlerin und Stifterin. Erst vor kurzem hatte sie sich bei einem Sturz den Oberschenkelhals gebrochen und wurde deshalb von den Häschern auf einer Trage zum Sammelplatz gebracht. Vor der Deportation schrieb sie noch einen Abschiedsgruß an eine enge Bekannte. Vier Monate später starb sie im Lager an Entkräftung.
Aus: Mile Braach, Marie Eleonore Pfungst 1862-1943. Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Reihe Biographien Nr. 1, Frankfurt am Main, 1995Alle Erwartungen sind leider übertroffen. Ich habe furchtbare Schmerzen und bin sehr elend. Leben Sie wohl und denken Sie an mich. M[arie] Pf[ungst]
Außerdem waren 42 Kinder im Alter zwischen zwölf Monaten und 14 Jahren von der gewaltsamen Verschleppung betroffen; sie lebten bis zu diesem Zeitpunkt im Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e. V., Hans-Thoma-Straße 24. Nach heutigem Wissenstand konnten 105 Personen befreit werden.
Ferdinand Levi, Erinnerungen an eine nicht vergessene Zeit meines Lebens (1955), JMF, Archiv, B1986/0331.Während der ganzen Fahrt wurden wir von einer johlenden Menge beschimpft und verhöhnt. ‚Schlagt sie doch tot, warum die teuren Kohlen für den Transportzug!‘ Immer wieder diese Zurufe, offenbar einstudiert.
Das Zitat von Ferdinand Levi gehört seit 2015 zu den „eingeschriebenen“ Zeugnissen der Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle.
Raasiku/Estland, 24. September 1942
Zwei Wochen nach Abschluss der drei „Alterstransporte“ in das Lager Theresienstadt wurden am 24. September 1942 noch einmal 237 Menschen verschleppt. Die Deportation betraf vorwiegend Bedienstete der Gemeinde, Handwerker und ihre Familien. Außerdem standen die Namen des Pflegepersonals aus dem kurz zuvor aufgelösten Israelitischen Krankenhaus in der Gagernstraße 36 auf der Liste. Der Zug fuhr von Frankfurt am Main zunächst nach Berlin, wo weitere 812 Personen zusteigen mussten. Von dort ging es weiter in Richtung Riga. Wegen Überbelegung des Rigaer Ghettos beschloss die SS nach Norden auszuweichen. An der Bahnstation Raasiku in Estland, etwa 35 Kilometer von Tallinn entfernt, räumten SS-Leute vermutlich am 30. September 1942 die Waggons und trennten die Insassen. Greise, Mütter und Kinder wurden in bereitstehende Busse verladen und in die Dünen bei Kalevi-Liivi gefahren. Dort war bereits ein Graben für das geplante Massaker ausgehoben. Alle hatten sich nun zu entkleiden, ihre Wertsachen in einen Koffer zu werfen. An abgelegener Stelle wurden ihnen bei lebendigem Leib die Goldzähne gezogen. Anschließend mussten sie sich gruppenweise in den Graben begeben. Erst die Erwachsenen, dann die Kinder wurden von estländischen Kommandos erschossen. Der Ort des Verbrechens wurde anschließend mit Sand bedeckt.
Traudel Seckbach, November 1945 (Protokoll)Dort befahl uns die SS mit sehr unfreundlichen Stimmen, auszusteigen. Die jungen Männer mussten zuerst heraus, um das Gepäck zu nehmen. Es gab viel Geschrei, und als mein Mann herausging, war es das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.
Die übrigen Personen des Transports – etwa 250 Frauen und 100 Männer – kamen in ein von estnischer Polizei bewachtes Waldlager und wurden dort nach Geschlechtern getrennt. Immer wieder gab es Selektionen und Verlegungen in andere Gefängnisse oder Lager, zum Beispiel nach Kaiserwald bei Riga. Einige mussten bei der Frankfurter Firma Philipp Holzmann in Reval Zwangsarbeit leisten. Im April 1945 erreichten sehr wenige Häftlinge der „Todesmärsche“ noch Bergen-Belsen, wo sie von britischen Soldaten befreit wurden. Nach derzeitigem Kenntnisstand haben zwölf Frankfurterinnen und Frankfurter die Deportation nach Estland überlebt.
Schändliche Bilanz
Damit waren ab dem 19./20. Oktober 1941 mehr als 10.000 Frauen, Männer und Kinder von der Großmarkthalle gewaltsam deportiert worden – stets tagsüber und vor den Augen der Öffentlichkeit. Bis einschließlich 15. März 1945 folgten vom Haupt- und Ostbahnhof kleinere Transporte in Konzentrations- und Vernichtungslager. Im digitalen Shoah Memorial Frankfurt können die Biografien tausender Frankfurter Opfer der NS-Vernichtungspolitik recherchiert werden.
Literaturauswahl
Jüdisches Museum Frankfurt (Hrsg.), „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt …“. Deportationen aus Frankfurt am Main 1941 bis 1945, Frankfurt am Main 2005.
Raphael Gross, Felix Semmelroth (Hrsg.), Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle. Die Deportation der Juden 1941-1945. München, London, New York 2016, S. 153-194.
Monica Kingreen (Hrsg.), „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938-1945, Frankfurt am Main, New York 1999.
Monica Kingreen, Die Deportation der Juden aus Hessen 1940 bis 1945. Selbstzeugnisse, Fotos, Dokumente. Aus dem Nachlass hrsg. und bearb. von Volker Eichler, Wiesbaden 2023.







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