Am 20. April 2021, zu seinem 120. Geburtstag, laden wir zu einem digitalen Abend über den Frankfurter Juristen, Kaufmann und Privatgelehrten Rudolf M. Heilbrunn (1901-1998). Unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Heike Drummer hat sich mit dessen Familiengeschichte befasst und stellt Euch ein Objekt aus dem Heilbrunn-Nachlass vor.
Es ist ein unauffälliger, leicht ramponierter Leitz-Aktenordner. Auf dem Rücken steht in flüchtiger Schrift „Briefe Papa v. 1939-1948“. Der Ordner enthält eine historisch überaus wertvolle, wenn auch lückenhafte Korrespondenz des Frankfurter Rechtsanwalts, Politikers, Autors und Mäzens Dr. Ludwig Heilbrunn (1870-1951) mit seinem Sohn Dr. Rudolf M. Heilbrunn. Alle dort chronologisch gesammelten Briefe wie auch eine beredte Leerstelle von sechs Jahren zeugen in bewegender Weise von den prekären und zeitweise lebensbedrohlichen Verhältnissen, in die Familie Heilbrunn spätestens ab Ende 1938 geriet.
Unmittelbar nach den November-Pogromen hatte sich Rudolf Heilbrunn mit seiner nichtjüdischen Ehefrau, der Übersetzerin Dr. Lore Grages, vor den Nationalsozialisten in die Niederlande gerettet. Dem Vater war mit Hilfe des Paares Anfang 1939 die Flucht nach London geglückt. Der jüngere Bruder Robert Hermann floh in die USA.
Über den Nachlass Dr. Rudolf M. Heilbrunn
Der Aktenordner ist ein Dokument aus dem umfangreichen Nachlass von Dr. Rudolf M. Heilbrunn, den wir in unserem Sammlungsbereich „Dokumente und Fotografien“ neben vielen anderen bedeutenden Nachlässen verwahren – etwa die von Eugen Mayer, Paul Arnsberg oder Bernhard Brilling, um einige wenige Namen zu nennen.
Gerade die jüngeren Nachlässe im Jüdischen Museum Frankfurt bilden stets in irgendeiner Form die Zäsur ab, die das Jahr 1933 und überhaupt die Zeit des Nationalsozialismus den Lebens- und Familiengeschichten eingeschrieben hat. Das war auch im Falle der Familie Heilbrunn nicht anders. Auf eindrucksvolle Weise dokumentiert vor allem die archivalische Überlieferung das Schicksal dieser jüdischen Familie, deren Tradition bis weit ins 18. Jahrhundert zurückreichte und deren tiefe Bindungen an ihre Heimatstadt Frankfurt am Main 1933 so jäh erschüttert und nach den November-Pogromen 1938 ganz ausgelöscht wurden.
Mit Rudolf Heilbrunn, der 1998 hochbetagt in Kaiserslautern starb, stand das Jüdische Museum schon zu dessen Lebzeiten zwecks Übernahme seiner privaten Hinterlassenschaft in Kontakt. Im Ergebnis erhielten wir – teils noch vor und teils nach seinem Tod – ein von der Überlieferung her betrachtet sehr heterogenes Familienarchiv nebst einem Bücherbestand aus seiner gut sortierten Privatbibliothek. Dazu zählen sogenannte Francofurtensien. Diese Bücher mit lokalem Bezug sind heute ein wichtiger Teil unserer Museumsbibliothek.
Kostbarkeiten aus dem Nachlass
Wenige Jahre später, nach dem Tod von Rudolfs zweiter Ehefrau Gertrud Heilbrunn, kam weiteres Material in unsere Sammlung. Besonders wertvoll sind die von angekauften Porträts des Buchhändlers und Antiquars Joseph Baer und seiner Ehefrau Hanna – um 1840 in Öl gemalt von Moritz Daniel Oppenheim (1800-1882). Die Baers waren in mütterlicher Linie verwandt mit Ludwig Heilbrunn.
Zu den weiteren „Highlights“ dieser „Nachlieferung“ zählen mehrere Originalkladden mit handschriftlichen Aufzeichnungen, die Rudolf Heilbrunn in Polizeigewahrsam und während der mehrmonatigen Inhaftierung in dem niederländischen Internierungslager Westerbork ab Dezember 1942 niederschrieb. In diesen Erinnerungen, postum im Jahr 2000 unter dem Titel „Zehn Nachtwachen“ im Societäts Verlag publiziert, reflektierte der Autor das politische und lokale Zeitgeschehen im 20. Jahrhundert bis zu Beginn der Lagerhaft und legte gleichzeitig ausführlich Zeugnis über seine Frankfurter Familiengeschichte ab.
Zeugnisse des Überlebens im Exil
Die quellenkritische Annäherung an den Aktenordner gibt uns Einblicke in die prekäre Lebenssituation im Exil, aber es stellen sich auch Fragen. In den ersten Monaten nach seiner Flucht verfügte der Vater Ludwig Heilbrunn augenscheinlich noch über qualitativ hochwertiges Briefpapier versehen mit seinem gedruckten Logo „LH“ – vermutlich konnte er einige Bögen ins Londoner Exil mitnehmen. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und den Kriegserklärungen Englands und Frankreichs an das Deutsche Reich verfasste Ludwig Heilbrunn seine Korrespondenz in englischer Sprache. Machte er dies aus Solidarität zu seinem Gastland? Aus Schutz vor der Zensur? Wir wissen es nicht.
London, den 30. April 1939Lieber Rudolf, […] Was mache ich mit meinen Möbeln? Ich sehe noch keine Möglichkeit mich irgendwie zu setteln. Ich muss wohl bis Lebensende als möblierter Herr von 15 Pfund den Monat leben, wenn es dazu überhaupt langt. Vielleicht ziehe ich ab Herbst mit Tante Sophie zusammen. Verzeiht den melancholischen Brief und seid selbst guten Mutes. Tausend Küsse, Euer Papa
Sechs lange Jahre Schweigen
Fast ein Jahr später, am 30. März 1940, reißt die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn für sechs Jahre ab. Die Angriffe der deutschen Wehrmacht auf die neutralen Niederlande, auf Belgien und Luxemburg stehen zu diesem Zeitpunkt unmittelbar bevor. Bis zu diesem Datum enthält der Ordner nur die Originale vom Vater, in denen er sich aber auf die Briefe von Sohn Rudolf bezieht. Das gibt uns Gewissheit, dass Rudolf Heilbrunn aus Amsterdam zwar antwortet, aber mangels Papier oder professionell ausgestattetem Arbeitsplatz keine Durchschläge anfertigen kann – nach 1945 und sukzessiver Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage wird dies akribisch der Fall sein, so dass wir ab diesem Zeitpunkt von echter Korrespondenz sprechen können. Während der Inhaftierung Ende 1942 bis Herbst 1943 konnte Rudolf nicht an den Vater schreiben. Ihre Briefe verfassten beide nach Wiederaufnahme des Kontaktes bis September 1945 auf Englisch, dann wechseln Vater und Sohn – bis auf wenige Ausnahmen – wieder ins Deutsche.
London, den 7. Oktober 1947Liebster Rudolf, […] Der Artikel, den Du mir über Frankfurt schickst, ist sehr interessant. Die Stadt scheint doch wieder viele Chancen zu haben und man sollte sich überlegen, ob man nicht doch dort wieder Anknüpfung suchen sollte. Alles, was ich für diese Stadt getan habe, sollte doch auch nicht ganz vergessen sein. […] Euer Papa
Nach 1945
Der Vater bleibt in seinen Briefen – nicht ohne Anflug gelegentlichen „schwarzen“ Humors – noch lange den eigenen Erinnerungen verhaftet. Der Grund liegt sicherlicht in seiner Entwurzelung, seiner Einsamkeit ohne die 1936 verstorbene geliebte Ehefrau, im fortgeschrittenen Alter, seiner Krankheiten und auch mangelnder Perspektiven. Die Briefe von Rudolf Heilbrunn nach 1945 zeugen hingegen von neuem Tatendrang. Er entwickelt Geschäftsideen, sucht Kontakt nach Frankfurt zu bekommen, um zusammen mit Bruder Robert die Rückerstattung aus den widerrechtlichen Enteignungen des Familienbesitzes zu forcieren. Er plant Reisen, besucht regelmäßig kulturelle Veranstaltungen, kommentiert die deutsche und weltpolitische Lage. Was indes Vater und Sohn Rudolf zeitlebens stark verbunden hatte und auch jetzt noch verbindet ist ihr bibliophiles Interesse und auch die Ambition, selbst zu publizieren.
Amsterdam, den 12. November 1946Lieber Papa, […] Ich gebe Dir darin vollkommen Recht, dass ich zurzeit, wie man hier in Holland so schön sagt, ‚etwas zu viel Heu auf die Gabel nehme‘. Nachdem ich aber die letzten Jahre seit meiner Rückkehr aus dem Camp in Westerbork in einer starken Depression und geschäftlichen Untätigkeit verbrachte, fühle ich mich jetzt nach meinen Reisen nach London und der Schweiz so frisch, dass ich die Verpflichtung fühle, eine Existenz in einem der Familie entsprechenden Stil wiederaufzubauen. […] Alles Liebe, Dein Rudolf
Im Herbst 1948 endet die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn. Sie ist zuletzt wieder vom Gefühl der Heimatlosigkeit geprägt angesichts der angespannten weltpolitischen Lage. Hinzu kommen Unsicherheit im persönlichen Leben, Zukunftsangst und Resignation. 1952 wurde die Ehe mit Lore Grages geschieden. Für einige Jahre lebte Rudolf Heilbrunn in der Schweiz. Erst 1962 kehrte er dauerhaft in die Bundesrepublik Deutschland zurück.
Rückkehr nach Deutschland
Später wohnte er mit der zweiten Ehefrau Gertrud bis zu seinem Tod 1998 im rheinland-pfälzischen Kaiserslautern. Dort baute er sich eine neue Existenz als Intellektueller, Privatdozent, Historiker und Autor auf. Zu Vorträgen – etwa über Ludwig Börne oder Johann Wolfgang von Goethe – reiste er auch hin und wieder in seine Geburtsstadt Frankfurt. Der Bruder Robert Heilbrunn indes hatte entschieden, in den USA zu bleiben; er starb 1991 in Washington.
Ludwig Heilbrunn kam 1950 als schwerkranker Mann zurück nach Deutschland, um sich hier medizinisch behandeln zu lassen. Sohn Robert setzte durch, dass der Vater wenigstens in die alte Liste der Ehrenbürger der Goethe-Universität aufgenommen wurde; ab dem Sommersemester 1950 erschien endlich sein Name wieder im Vorlesungsverzeichnis. Ludwig Heilbrunn starb am 3. April 1951 im Alter von 80 Jahren im Sanatorium Bühler Höhe bei Baden-Baden und wurde in Frankfurt am Main auf dem Jüdischen Friedhof Rat-Beil-Straße im Familiengrab bestattet.
Wieder war es Sohn Robert Heilbrunn, der sich in seiner damaligen Funktion als Angehöriger des Office of the United States High Commissioner for Germany nach der Beerdigung für einen von der Universität beauftragten Kranz mit den Worten bedankte: „Ich bin überzeugt, dass es für ihn ein spätes Gefühl der Genugtuung gewesen wäre, dass seine Verdienste um diese Anstalt nicht ganz vergessen sind.“
Ein Abend für Rudolf M. Heilbrunn
Am 20. April 2021 widmen wir Rudolf M. Heilbrunn eine digitale Abendveranstaltung, zu der wir Euch herzlich einladen. Weitere Infos findet Ihr in unserem Onlinekalender.
Literaturauswahl
Drummer, Heike: Heilbrunn, Rudolf M. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), http://frankfurter-personenlexikon.de/node/6732 (Stand: 30.3.2020)
Drummer, Heike: Heilbrunn, Ludwig. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), http://frankfurter-personenlexikon.de/node/2533 (Stand: 30.3.2020)
Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden (Hg): Zehn Nachtwachen. Lebenserinnerungen von Rudolf M. Heilbrunn. Frankfurt am Main 2000 (bearbeitet von Sabine Fuchs).
Ludwig Heilbrunn: Der Kampf um die Frankfurter Universität. In: Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden (Hg.): Frankfurter jüdische Erinnerungen. Ein Lesebuch zur Sozialgeschichte 1864-1951. Sigmaringen 1997, S. 125-133 (bearbeitet von Elfi Pracht).
Kommentare
Ihr Kommentar