Unsere Wechselausstellung zeigt sieben Perspektiven auf Mirjam Pressler. Wir stellen sie als Autorin, Übersetzerin, Künstlerin und Mutter vor und gehen auf ihre Beziehung zu Anne Frank, Israel wie auch zum Judentum ein. In diesem Beitrag widmet sich Kuratorin Franziska Krah Presslers Wirken als Übersetzerin.
Alles begann im Dezember 1982. Auf der Weihnachtsfeier des Peter Weismann Verlags sprachen die Gäste über ein Jugendbuch aus den Niederlanden, für das sich keine Übersetzerin fand. Mirjam Pressler, die zwei Jahre zuvor als Jugendbuchautorin debütierte und bereits sechs Bücher veröffentlicht hatte, sagte spontan zu. Einzige Herausforderung: sie sprach kein Wort Niederländisch. Und da „habe ich mir ein gutes Wörterbuch gekauft, die Übersetzung selbst gemacht und eine Niederländerin gebeten, zu kontrollieren, ob ich keine Fehler mache.“ So erinnert sich Pressler später an den Moment, als sie zur Übersetzerin wurde. Nur vier Jahre später bekam sie den Auftrag, das weltberühmte „Tagebuch der Anne Frank“ neu zu übersetzen. Wie kam es dazu?
Der Weg zur preisgekrönten Übersetzerin
Mirjam Pressler stammte aus einfachen Verhältnissen. Bücher, Lesen, Sprache spielten in ihrem Umfeld keine Rolle. „Man hat höchstens gebrüllt, geknurrt und gefaucht, aber sonst nichts“, beschrieb sie einst den Lebensalltag ihrer Pflegefamilie. Als sie sich Mitte der 1980er Jahre als Übersetzerin etablierte, tat sie dies als Autodidaktin. Auf Nachfrage erzählte sie stets, Französisch und Englisch habe sie in der Schule gelernt, alle anderen Sprachen habe sie sich selbst beigebracht. Hier und da kursiert die Falschmeldung, sie habe in München Sprachen studiert. Die Münchner Universität hatte Pressler aber nie zum Studium zugelassen – weder als ordentliche Studentin noch als Gasthörerin. Da Pressler mit 16 Jahren die Schule verlassen und auch ihr Kunststudium an der Städelschule abgebrochen hatte, wäre sie an einer Universität nicht zugelassen worden. Umso beeindruckender ist, dass sie schließlich aus einer Vielzahl an Sprachen übersetzte: Niederländisch, Hebräisch, Englisch, Flämisch, Afrikaans und Jiddisch.
Ihr erster Auftrag war das oben beschriebene Buch der niederländischen Kinder- und Jugendbuchautorin Veronica Hazelhoff. 1983 erschien es unter dem deutschen Titel „Mensch, Mama“. Es war der erste Teil einer Trilogie mit „Tochter-Geschichten“ um die junge Hauptfigur Maartje.
Ein Jahr später folgte Presslers zweite Übersetzung „Der Paviankönig“ vom niederländischen Autor Anton Quintana. Später übersetzte sie auch Quintanas „Auf der Suche nach Padjelanta“ (1985), „Die Nachtreiter“ (1988) und „Wandernde Hügel, singender Sand“ (1997).
Bereits ihre ersten ins Deutsche übertragenen Titel waren erfolgreich und landeten teils auf der Nominierungsliste zum deutschen Literaturpreis. Das 1985 von ihr übersetzte Buch „Die wundersame Reise der kleinen Sophie“ von Els Pelgrom gewann ebenso den Deutschen Jugendliteraturpreis wie Bart Moeyaerts „Bloße Hände“, das Pressler 1997 aus dem Niederländischen übertrug.
Bis zu ihrem Lebensende waren es zum großen Teil niederländische Bücher, die sie übersetzte. Doch Ende der 1980er Jahre begann Pressler auch aus dem Hebräischen zu übersetzen. Die Initiative hierfür kam vom Alibaba Verlag. Der kleine Verlag, 1980 in Frankfurt am Main gegründet und heute nicht mehr existent, brachte viele Bücher aus Israel auf den deutschen Kinder- und Jugendbuchmarkt. Verleger Abraham Teuter suchte hierfür Menschen, die das Hebräische ins Deutsche übertrugen. Es heißt, er habe Pressler dazu überredet, damit zu beginnen. Und ganz offensichtlich war dies eine großartige Idee, denn obwohl auch hier ihre Sprachkenntnisse zunächst begrenzt waren, entwickelte sich Pressler zu einer gefragten Übersetzerin israelischer Literatur.
Im Unterschied zum Niederländischen hatte sie während ihres mehrmonatigen Israel-Aufenthalts 1962/63 bereits etwas Hebräisch gelernt. Und da ihre angeheiratete Familie in Israel lebte, war sie seit Mitte der 1960er Jahre regelmäßig im Land. Doch ihre hierdurch gewonnenen Sprachkenntnisse reichten nicht aus fürs Übersetzen, so dass Pressler – ebenso wie im Niederländischen – Wörterbuch und Muttersprachler zur Seite standen. Unter anderem half ihr Eldad Stobezki, der 1979 von Israel nach Frankfurt am Main zog und dort bis heute als Lektor und Übersetzer arbeitet.
Beim Alibaba Verlag erschien 1990 Presslers Übersetzung von Gila Almagors Jugendbuch „Der Sommer von Aviha“. Almagor schildert darin ihre Kindheit in Israel als Tochter einer Auschwitz-Überlebenden und eines Geflüchteten, der wenige Monate vor ihrer Geburt von einem arabischen Scharfschützen erschossen wurde. Das Buch ist in Israel Schullektüre.
Im selben Jahr erschien eine weitere Übersetzung Presslers aus dem Hebräischen. Und zwar bei Elefanten Press, einem linken Berliner Verlag. Nach Alibaba war dies die zweite Adresse, die Pressler in den 1990er Jahren mit Übersetzungen aus dem Hebräischen beauftragte. Den Anfang machte sie mit dem Jugendbuch „Der Mann von der anderen Seite“ von Uri Orlev. Anschließend übersetzte Pressler für Elefanten Press auch Orlevs Bücher „Die Krone des Drachen“ (1992), „Das Tier in der Nacht“ (1993) und „Das Sandspiel“ (1994). Orlev war in Israel ein bekannter Jugendbuchautor und Pressler sorgte dafür, dass er auch in Deutschland von vielen jungen Menschen gelesen wurde und wird.
Schon 1993 übersetzte sie mit „Sumchi“ das erste Buch von Amos Oz, Israels wohl bekanntestem Schriftsteller.
Frank Griesheimer„Auch die israelische Gegenwartsliteratur, die bis in die Achtzigerjahre bei uns ein Schattendasein führte, machte Mirjam Pressler mit ihren Übersetzungen populär. So übersetzte sie etwa Zeruya Shalev, Batya Gur, Amos Oz, Uri Orlev, Lizzie Doron, Gila Almagor, Mira Magen und Sayed Kashua.“
Mit dem Niederländischen und Hebräischen begann Pressler aus Sprachen zu übersetzen, für die es in den 1980er Jahren nur wenige Übersetzer*innen gab. Dies ermöglichte ihr, leichter Fuß zu fassen. Doch übersetzte sie ab 1990 auch aus dem Englischen, einer Sprache, für die es keinen Übersetzermangel gab.
Inge Auerbachers „Ich bin ein Stern“, war das erste englische Werk, das sie ins Deutsche übertrug. Darin schildert die Autorin, wie sie als Siebenjährige ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wird. Das Jugendbuch erschien 1990 beim Beltz & Gelberg Verlag, der auch Presslers eigenen Werke verlegte.
2002 schuf Pressler die dritte Neuübersetzung von Johns Steinbeks „Von Mäusen und Menschen“, einem Roman, der vom Scheitern des American Dreams handelt. Ein Jahr darauf erschien ihre Übersetzung von Mirjam Weinsteins Sachbuch „Jiddisch. Eine Sprache reist um die Welt“, das die Geschichte einer kaum mehr verbreiteten Sprache erzählt. Mit „Für Hund und Katz ist auch noch Platz“ übersetzte Pressler 2001 ein bis heute populäres Kinderbuch von Julia Donaldson und Axel Scheffler.
Warum Mirjam Pressler übersetzte
Pressler begann mit dem Übersetzen zunächst aus ganz pragmatischen Gründen. Der Verdienst für ihre eigenen Bücher reichte nicht aus, um sich und ihre drei Kinder zu versorgen. Daneben sind es aber zwei große Lieben, die sie motivierten und ganz bestimmt dazu beitrugen, dass sie so gut darin war.
Sie liebte Sprachen und diese Liebe begleitete sie lebenslang. Besonders die hebräische Sprache hatte es ihr angetan und sie übersetzte daraus besonders gern. Neben den Sprachen, aus denen sie übersetzte, lernte sie in ihrer Freizeit weitere Sprachen wie Spanisch, das sie bis zum Lebensende übte, sowie Mandarin, das sie nach ersten Versuchen wieder aufgab. Noch im Juli 2018, wenige Monate vor ihrem Tod, meldete sie sich an der Volkshochschule in Landshut für einen Russischkurs an.
Ihre zweite Liebe galt – wenig überraschend – den Büchern. „Ich liebe Bücher. Und Übersetzen ist eine Form von Lesen, die um Längen intensiver ist als alles andere.“ So meinte sie einst in einem Interview und fügte hinzu, dass sie sich gern auf den Stoff einlasse und die richtige Sprache zu finden suche. Außerdem verliebe sie sich häufig in Bücher. Gefällt ihr ein Buch, so möchte sie, dass es allen Leuten gefällt.
Mirjam Pressler„Für mich ist das Übersetzen nicht nur eine der schönsten, sondern auch eine der wichtigsten Tätigkeiten, die es gibt. Bücher aus fremden Ländern bauen Fremdheiten ab, wir erweitern durch sie unseren Horizont.“
Ein vierter wichtiger Motivationsschub für ihre unermüdliche Übersetzungsarbeit waren ganz sicher die in den Büchern verhandelten Themen. Es kristallisieren sich hier wiederkehrende Motive und Themen heraus, die ihr viel bedeuteten.
Zunächst einmal war es im Bereich Jugendbuch der realistische Roman. Wie im eigenen Werk werden darin Identitätsfindung, Einsamkeit, Außenseiterrollen oder Eltern-Kind-Konflikte verhandelt. Häufig werden eigene Kindheitserinnerungen aufgearbeitet und die Geschichten sind nicht besonders optimistisch. Malte Dahrendorf meinte einst, in Presslers Übersetzungswerk sei „eine Vorliebe erkennbar, für nach innen gekehrte Protagonisten und Protagonistinnen, die trotz Vereinzelung und äußerer Gefährdung ihren Weg und sich selber suchen.“
Interessant sind auch Parallelen in den Biografien der Autor*innen, die sie übersetzte. Das gilt insbesondere mit Hinblick auf die frühen Übersetzungsaufträge. Wie Pressler verließ Hazelhoff mit 16 Jahren die Schule, um an einer Kunstakademie zu studieren. Und dann trat auch sie 1980 ganz überraschend als Autorin in Erscheinung, ein Jahr später wurde sie mit ihrem ersten Roman bereits zweifach preisgekrönt. Wie Pressler wuchs Quintana ohne Vater auf und kam früh ins Waisenhaus. Eine behütete Kindheit erlebte er ebenso wenig wie sie. Das mag vielleicht nur Zufall sein. Für die Parallelen der Bücherthemen gilt es aber sicher nicht, sondern diese hat Pressler selbst gewählt.
Ab Mitte der 1980er Jahre übersetzte Pressler Bücher, die den Nationalsozialismus und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden behandeln. Das war noch vor ihrer Neuübersetzung von Anne Frank. So erschien 1986 der von ihr ins Deutsche übertragene Roman „Eine gute Adresse“ – ein Jugendroman von Bert Kok über die Rettung jüdischer Kinder in den Niederlanden. 1987 übersetzte sie Anton Tellegens autobiografischen Roman „Ich war fünfzehn und zum Glück groß für mein Alter“. Tellegen wurde als Kind mit seinen nichtjüdischen Eltern ins Konzentrationslager verschleppt, weil diese im Widerstand aktiv waren. Er überlebte als Einziger seiner Familie und beschreibt, wie schwer es ihm fiel, in der Nachkriegszeit zurechtzukommen.
Pressler übersetzte schließlich immer mehr aus dem Bereich Erinnerungsliteratur und häufig handelte es sich um autobiografische Texte zur Shoa. Hierzu zählt die Überlebende Ida Vos, von der Pressler sechs Bücher aus dem Niederländischen ins Deutsche übertrug. Aber auch großartige fiktionale Stoffe wie Karlijn Stoffels „Mojsche und Rejsele“ (1998) brachte sie auf den deutschen Buchmarkt.
In der hebräischen Literatur war die Shoa lange Zeit zentrales Thema. In „Dank meiner Mutter“ (1994) berichtet die Autorin Schoschana Rabinovici vom eigenen Überleben in Ghetto, Konzentrationslagern und auf dem Todesmarsch. Andere Bücher handeln wiederum vom Weiterleben nach 1945, etwa Tamar Bergmans „Taschkent ist weit von Lodz“ (1992). „Auf dem Hügel unter dem Maulbeerbaum“ (1994) von Gila Almagor handelt von Kindern, die der Schoa entkommen sind, und im israelischen Kinderheim auf Lebenszeichen ihrer Eltern warten. Das Buch schildert damit auch das Leben in Israel der 1950er Jahre. In „Wasserman“ (1991) von Yoram Kaniuk steht schließlich das Leben in Israel im Fokus. Thalia, ein junges Mädchen aus Tel Aviv, findet den entkräfteten und verwahrlosten Hund Wassermann und bemüht sich um seine Rettung.
Die von ihr übersetzten Bücher inspirierten Pressler im eigenen Schreiben. Erst nachdem sie ab Mitte der 1980er Jahre zahlreiche Bücher mit jüdischen Figuren sowie insbesondere zur Shoa übersetzt hat, gelangen erstmals jüdische Themen und Figuren in ihr Werk. Sie selbst sah insbesondere ihre Arbeit am „Tagebuch der Anne Frank“ ab 1987 als Paradigmenwechsel.
Mirjam Pressler„Als Autorin habe ich jüdische Themen erst gemieden. Bis Anne Frank kam. Der S. Fischer Verlag wollte, dass ich die historisch-kritische Ausgabe ihrer Tagebücher übersetze, und natürlich habe ich sofort Ja gesagt, denn das war ja eine Ehre. Die Beschäftigung mit ihr und ihrer Familie hat mich verändert.“
Das erste Buch, das Pressler der jüdischen Geschichte widmet, ist ihre Biografie über Anne Frank. Als sie 1992 erschien, schrieb ihr Buddy Elias, der Cousin Anne Franks: „Ich hätte nicht gedacht, dass noch etwas Essentielles [über Anne Frank] geschrieben werden müsste. Mirjam, du hast mich eines Besseren belehrt. Dein Buch ist wichtig und ausgezeichnet.“ Ihre intensive Beschäftigung mit Anne Frank wiederum war es vermutlich auch, die dazu führte, dass sie schließlich den Großteil an Erinnerungs- und Sekundärliteratur zum Thema Anne Frank, ihrer Familiengeschichte und das Hinterhaus ins Deutsche übertrug.
Mirjam Presslers Vorgehen beim Übersetzen
Anhand Mirjam Presslers Arbeit wird deutlich: Eine gute Übersetzung zeichnet sich nicht dadurch aus, Wort für Wort in eine andere Sprache zu übertragen. Insbesondere in literarischen Werken gilt es, ein Feingespür für Wortspiele, Wendungen, Gefühle und Stimmungen zu entwickeln. All das muss im übersetzten Text wiedergegeben werden, auch wenn dies bedeutet, ihn hierfür leicht abzuwandeln. Zu berücksichtigen ist auch, dass jede Sprache anders funktioniert, genauso wie mit jeder Sprache eine eigene kulturelle Prägung und Eigenheit verknüpft ist.
Pressler meinte einst, das Übersetzen sei zwar ein schlecht bezahlter Beruf, der aber mit großer Verantwortung verbunden sei, denn: „Man kann aus einem schlechten Buch kein gutes machen, aber jeder Übersetzer kann aus einem guten Buch ein schlechtes machen und zwar mühelos.“ Für Pressler lag der Schlüssel einer guten Übersetzung darin, zu fühlen, was zwischen den Zeilen steht. Außerdem ginge es darum, die Atmosphäre zu erfassen und diese in der neuen Sprache entstehen zu lassen.
Weniger wichtig dagegen sei es, die Sprache, aus der man übersetzen möchte, gut zu beherrschen. Doch die Sprache zu beherrschen, in die man übersetzen möchte, sei elementar. Es half also, dass sie selbst Schriftstellerin war und sehr gut schreiben konnte. Außerdem hatte sie ein besonderes Verhältnis zu Sprache allgemein. In einem Vortrag überlegte sie hierzu: „Vielleicht ist mein Leben ja nicht geprägt von Worten und Sätzen, sondern im eigentlichen Sinn daraus gemacht.“ Schließlich traue sie Wahrnehmungen erst dann, wenn sie Worte für sie finde oder mit Worten eingekreist habe, bis sie deren Kern erkannt habe.
Pressler war bekannt für ihren großen Arbeitseifer, sie arbeitete um die zwölf Stunden täglich und dabei galt, so Lektorin Barbara Gelberg, ein Großteil ihrer Schreibtischzeit ihrer Übersetzungstätigkeit. Ganz bestimmt hatte sie große Freude am Übersetzen und diese Einstellung spiegelt sich auch im Ergebnis wider. Und sie behandelte die Übersetzungen genauso wie ihre eigenen Bücher und ließ ihre Übersetzung stets von ihrem Lektor Frank Griesheimer prüfen, notfalls bezahlte sie sein Honorar aus eigener Tasche.
Mirjam Pressler„Natürlich braucht man für diese Arbeit ein solides Vokabel- und Grammatik-Fundament, aber mindestens genauso wichtig ist die Kompetenz in der Muttersprache und ein Gefühl für die Eigenart und den Gehalt des fremdsprachigen Textes.“
Pressler ging beim Übersetzen ganz ungewöhnlich vor. Sie las ein Buch nämlich nicht vorab, sondern übertrug es sofort Satz für Satz ins Deutsche, „damit es für mich spannend bleibt.“ Das führte manchmal dazu, dass sie nach den ersten Seiten noch nicht vom Inhalt überzeugt war und sich erst später begeistern ließ. So geschah es während ihrer Arbeit an Anne Franks Tagebuch. Dem Präsident des Anne Frank Fonds und Auftraggeber Vincent Frank-Steiner schrieb sie im August 1987: „Ich übersetze Annes Texte immer lieber. Am Anfang ist es wirklich nur das Tagebuch eines pubertären Mädchens, etwas belanglos und ein bißchen hingehudelt. Aber je älter sie wird, um so schöner wird es.“
Noch deutlicher werden die Konsequenzen ihres Arbeitsprozesses anhand der israelischen Autorin Lizzie Doron. Nadine Meyer, damalige Leiterin des Jüdischen Verlags im Suhrkamp Verlag, bat Pressler um die Übersetzung von Dorons „Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?“ (2004). Nach dem Prolog bekam sie einen Anruf von Pressler, die meinte, der Stoff sei nichts für sie. Meyer bat darum, es noch ein paar weitere Seiten zu versuchen. Drei Stunden später rief sie wieder an und revidierte ihr erstes Urteil: „Ich habe das Buch übersetzt und hielt es beim ersten Kapitel noch für nichts Besonderes, fast für trivial. Das hat sich sehr schnell geändert.“
Seither übersetzte Pressler bis zu ihrem Tod alle Bücher von Doron. Auch entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden und sie gingen gemeinsam auf Lesereisen. Sogar ein Theaterstück entwickelte Pressler aus Dorons Debut, bei dessen Aufführung beide anwesend waren. Diese Verbundenheit half sicher auch über Schwierigkeiten hinweg, wie sie sich beim Buch „Who the Fuck is Kafka“ (2015) ergaben. Der Roman ist bis heute nicht im Original erschienen, daher arbeitete sie mit Dorons Manuskript. Doron änderte es jedoch während der Übersetzungsarbeit etwa viermal, weshalb Pressler mehrmals neu beginnen musste. Entsprechend negativ stand Pressler dem Übertragen nichtpublizierter Stoffe gegenüber.
Auch mit anderen Autorinnen und Autoren stand sie während ihrer Arbeit in Kontakt. Häufig meldete sie sich für Nachfragen. Manchmal besuchte Pressler sie auch persönlich, um über die Bücher zu sprechen. Und bei einigen entwickelte sich eine enge Bindung. Neben Doron war dies bei Uri Orlev der Fall. Pressler übersetzte beinahe alle Bücher des bekannten israelischen Kinderbuchautors und übernahm dabei auch das Lektorat. Pressler begleitete Orlev auf seinen Lesereisen durch Deutschland, hatte zu seiner Frau eine herzliches Verhältnis, und meinte über die Beziehung zu ihm: „Wir mögen uns sehr, wir sind verwandte Seele.“
Rezeption und Ausblick
Zu Beginn ihrer Übersetzungstätigkeit nahm Pressler alle Aufträge an, da sie als alleinerziehende Mutter aufs Geld angewiesen war. Bald konnte sie sich die Bücher auswählen und mitbestimmen, was auf dem deutschen Buchmarkt landete. Der Vermerk „Deutsch von Mirjam Pressler“ geriet gewissermaßen zum geheimen Gütesiegel. „Bis auf ein paar Gurken (die sie übersetzt hat, weil sie es versprochen hat, ohne sie vorher zu lesen) kann man alle von ihr übersetzten Büchern in den Warenkorb legen und mit auf die Insel nehmen“, meint Lektorin Barbara Gelberg. Das gilt für die Bücher von Amos Oz ebenso wie für Zeruya Shalev, Aharon Appelfeld, Peter van Gestel u.v.m. Ihre insgesamt rund 350 Übersetzungen zeigen zugleich, wessen Werk sie selbst schätzte.
1994 erhielt Pressler ihre erste Auszeichnung fürs Übersetzen: Den Jugendliteraturpreis – Sonderpreis für Übersetzungen. Sechs Jahre später lobte der strenge Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ihre Übersetzungsleistung in seiner Sendung Literarisches Quartett.
Marcel Reich-Ranicki„Das ist fabelhaft übersetzt, Mirjam Pressler sei lobend und rühmend erwähnt. Und ich frage mich, ist das möglich, dass das im hebräischen Original so gut ist wie in der deutschen Übersetzung? Denn die ist wirklich ganz grandios!“
2015 erhielt sie gemeinsam mit Amos Oz den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt für seinen Roman „Judas“ (2015) und speziell für ihre Übersetzung den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung.
Außerdem wurde sie häufig zugleich als Autorin und Übersetzerin gewürdigt, etwa mit der Carl-Zuckmayer-Medaille, dem Bayerischen Verdienstorden, der Buber-Rosenzweig-Medaille und dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung.
Amos Oz„Ein literarisches Werk in eine andere Sprache zu übersetzen ist so, als würde man auf dem Klavier ein Violinkonzert spielen. Man kann das erfolgreich machen, wenn eine Bedingung gegeben ist: Versuch nie mit dem Piano den Klang der Violine zu erzeugen. Danke Mirjam, dass du so eine so wunderbare Pianistin für mein Violinkonzert bist!“
2018 erhielt Pressler das Große Bundesverdienstkreuz. Sie habe sich „in herausragender Weise für die Völkerverständigung zwischen Israel und Deutschland und die Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht“ eingesetzt, hieß es zur Begründung. Damit wurden nicht nur ihre Aufzeichnung und Bearbeitung von Geschichten Überlebender, sondern insbesondere auch ihre Übersetzungen aus dem Hebräischen gewürdigt.
Denn in der Tat führte die israelische Gegenwartsliteratur bis in die 1980er Jahre ein Schattendasein in Deutschland. Pressler gehörte zu den wichtigen Akteurinnen, die sie durch ihre Übersetzungen für ein deutsches Publikum bekannt machte. „Mirjam war und ist eine unersetzliche Literaturvermittlerin, der man unbedingt vertrauen kann. Diese Bücher begegnen ihr einfach, manchmal sieht sie sie auf irgendeinem Nachttischchen liegen. Und wenn sie eines dieser Bücher liebt, setzt sie sich unerbittlich dafür ein“, so Gelberg.
Dieses Engagement fehlt seit ihrem Tod im Januar 2019. Doch ihre Bücher und Übersetzungen bleiben. Und so wird etwa bis heute ihre Übersetzung von Anne Franks Tagebuch als maßgeblich erachtet und selbst für Übersetzungen in andere Sprachen herangezogen. Und erst ihre Neuübersetzung enthüllte Anne Franks literarisches Talent, so dass sie inzwischen auch als Schriftstellerin betrachtet wird, die sie eigentlich werden wollte.
Ich danke der Familie Pressler für die Einblicke in ihren gemeinsamen Lebensalltag sowie Barbara Gelberg, Frank Griesheimer, Nadine Meyer und Eldad Stobezki für die Gespräche über ihre Zusammenarbeit und Freundschaft mit Mirjam Pressler.
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