Der Expressionist
Ludwig Meidners expressionistische Werke zeichnen sich durch ihren spontanen, dynamischen Gestus aus. Sie galten daher schon den Zeitgenossen als Inbegriff des Expressionismus: "Alles, was er macht, ist Ausdruck, Ausbruch und Aussprengung."
Meidners expressionistische Gemälde und Zeichnungen thematisieren die Dynamik der Großstadt sowie Katastrophen und Weltuntergang. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges, als die imaginierten Katastrophen seiner sogenannten „apokalyptischen Landschaften“ schreckliche Wirklichkeit zu werden schienen, befasste sich Meidner zunehmend mit religiösen Themen. Seine ausdrucksstarken Figuren schwanken dabei zwischen Verzückung und Verzweiflung.
Expressionistische Werke Meidners
Die Dynamik der Straßenszene entsteht durch die Verzerrung der Perspektive. Die senkrechten Linien der Gebäude werden zu Diagonalen, die in die Bildmitte zu stürzen scheinen. Zudem suggerieren rhythmisch wiederholte Linien Bewegung.
Das Caféhaus war ein wichtiger Treffpunkt der Berliner Künstler- und Literatenszene. Dementsprechend ist das Café ein beliebtes Motiv in expressionistischen Bildern der Großstadt. In Meidners Zeichnung zeigen sich Einflüsse von Kubismus und Futurismus. Das Motiv verschwindet beinahe in einem Gewirr dynamischer Linien.
Seit 1912 war Ludwig Meidner vor allem durch seine Bilder von Katastrophen, den später so genannten "apokalyptischen Landschaften" bekannt geworden. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges schienen diese Schreckensszenarien Wirklichkeit geworden.
Meidner war mit seiner bereits 1914 entstandenen Mappe "Krieg" einer der ersten deutschen Maler, der künstlerisch seine Kritik am Krieg äußerte. Während er in seinem Bilderzyklus bereits die Schrecken des Krieges thematisierte, war die überwältigende Mehrheit der Deutschen, darunter auch die meisten Intellektuellen und Künstler, noch von einer euphorischen Kriegsbegeisterung erfasst.
Während seines Militärdienstes als Dolmetscher in einem Kriegsgefangenenlager ab 1916 entstanden Meidners hymnische Prosadichtungen "Im Nacken das Sternemeer" und "Septemberschrei". Die Texte und Illustrationen spiegeln auch seine intensive Auseinandersetzung mit der Religion wieder. Die Bilder zeigen Betende oder Propheten in ekstatischer Verzückung oder verzweifelter Klage.
Meidners frühe religiöse Darstellungen sind noch ganz expressionistisch geprägt. Er suchte damals nicht nur in der Lektüre theologischer Schriften nach religiöser Orientierung, sondern vielmehr auf einer emotionalen Ebene. Dabei suchte er das intensive innere Glaubenserlebnis, was sich auch in den bewegten Figuren seiner religiösen Darstellungen manifestiert.
Meidner erklärte in den frühen 1920er Jahren seine Abkehr vom Expressionismus. Er schrieb etwa: "Ja, wir haben die Kunst zu sehr vergöttert, zu leidenschaftlich umworben mit unserer Seele – jetzt ist sie abgenutzt und verbraucht." Der Kunst stellte er nun die Religion gegenüber, die "wahre Kunst", die allein Antworten auf die Sinnfrage geben kann.
Trotz seiner Abwendung vom "Irrweg des Expressionismus" blieb Meidner in Grunde sein Leben lang ein Expressionist. Das heißt, auch in seinem späteren Werk steht das innere Erleben im Mittelpunkt. Obwohl sich seine Stilmittel ändern, finden sich auch hier dramatische und emotionale Momente. Wenig ist komponiert und konstruiert, alles ist gefühlt und erlebt.
Ludwig Meidner, Eine autobiographische Plauderei, 1923"Nichts tu ich lieber als große Blätter komponieren mit Gestalten oder Begebnissen der heiligen Schrift. So einen korpulenten Zeloten hineinzupflanzen in den Raum, daß die Wölklein seinen Ringelbart umspielen!"
Künstler und gläubiger Jude
Mitte der 1920er Jahre mündete die religiöse Sinnsuche Meidners in der Rückkehr zum Judentum. Er richtete sein tägliches Leben gemäß der traditionellen Vorschriften aus. Auch in seiner Kunst beschäftigte er sich fortan intensiv mit der Bibel und der jüdischen Tradition.
Für Meidners eigene religiöse Praxis und für seine religiösen Darstellungen nahm dabei das Gebet, also die individuelle Begegnung mit dem Schöpfer, eine Schlüsselrolle ein. Seine Bilder konzentrieren sich ganz auf diese innere Begegnung, egal ob er widerspenstige Propheten oder inbrünstige Beter beim Gottesdienst zeigt. Pittoreske Genreszenen oder von Motive aus dem ostjüdischen Schtetl fehlen hier hingegen vollständig.
Religiöse Werke Meidners
Seit den 1920er Jahren entstanden zahlreiche Darstellungen biblischer Szenen. Sie zeigen Propheten und Betende im Zwiegespräch mit Gott. Die Ergriffenheit der Figuren angesichts der Gegenwart Gottes veranschaulicht Meidner in der expressiv überzeichneten Körperlichkeit der Figuren.
Die Kohlezeichnung thematisiert die Verfolgung des Propheten: weil er die Eroberung Jerusalems durch die feindlichen Babylonier vorhergesagt hatte, wurde Jeremias verhaftet. Die Zeichnung kann durchaus autobiografisch gedeutet werden. Meidner empfand 1935 die Situation in Berlin, wo er als jüdischer Maler bekannt war, als zunehmend bedrohlich und zog schließlich nach Köln.
Die meisten der vielen hundert biblischen Zeichnungen Meidners tragen keinen Titel. Bei den vielen Darstellungen, die nur eine Figur ohne jedes erzählerische Beiwerk zeigen, ist oft nicht eindeutig zu klären, welche Szene aus der Bibel gemeint ist. Hier sind jedoch eindeutig Mose und Aaron dargestellt, die den Berg Sinai besteigen während die Israeliten zurückbleiben sollen (2. Mose, 19, 24).
Meidners Auseinandersetzung mit der Religion fand ihren Niederschlag auch in zahlreichen Porträts. Diese tragen häufig selbstbildnishafte Züge, wobei oft nur einzelne Gesichtspartien eine deutliche Ähnlichkeit mit der Physiognomie Meidners aufweisen. Gemeinsam ist den Porträts eine rhetorische Grundhaltung: durch den Blick oder die Gestik wird der Betrachter direkt angesprochen.
Laut einer Inschrift auf der Rückseite der Zeichnung handelt es sich bei dem Dargestellten um einen Rabbiner aus Timisoara im heutigen Rumänien. Bislang ist es nicht gelungen, näheres zu dessen Person herauszufinden.
Das Idealporträt eines frommen Juden mit Kippa und Gebetsmantel entstand 1947/48. Die obere Gesichtshälfte trägt deutlich selbstbildnishafte Züge, während Meidner die untere Gesichtspartie mit dem Bart nach der Phantasie ergänzt hat.
Emigrant
Im Exil schuf Meidner vor allem Zeichnung und Aquarelle, jedoch kaum Ölgemälde. Dass ist typisch für emigrierte Künstler, die sich häufig keine Leinwände und Ölfarben leisten konnten. Trotz der deprimierenden Armut und der fehlenden Bestätigung als Künstler, die Meidners Zeit in London prägten, waren diese Jahre insgesamt doch künstlerisch höchst produktiv.
Er durchstreifte London auf ausgedehnten Spaziergängen und hielt seine Eindrücke unermüdlich in seinen Skizzenbüchern fest. Im britischen Internierungslager porträtierte er Hunderte seiner Mitgefangenen. Zudem entstanden umfangreiche aquarellierte Zyklen mit humoristischen oder grotesken Darstellungen, in denen Meidner die aus den Fugen geratene Zeit kommentierte. Schließlich zeichnete er in England einen Zyklus zur Judenverfolgung in Europa, die er mit steigendem Entsetzen aus der Ferne beobachtete.
Exilbilder Meidners
In seinen Skizzenbüchern hielt Meidner bei Besuchen der Londoner Parks und Pubs seine Eindrücke fest. Viele der Zeichnungen, so auch diese Darstellung dreier ins Gespräch vertieften Frauen, verraten die Perspektive des unbeteiligten Beobachters, des Außenstehenden.
Noch während seiner Internierung malte Meidner Aquarelle mit humoristischen, teilweise grotesken Motiven. Im Laufe des englischen Exils wurden daraus umfangreiche Serien, zu denen ihn auch die Tradition der englischen Karikatur, namentlich Hogarth, Rowlandson und Gillray angeregt hatten. Trotzdem handelt es sich meist nicht um Karikaturen im engeren Sinne, da sie oft rätselhaften oder sogar bedrohlich wirken.
Ende 1942 begann Meidner einen Zyklus von Aquarellen und Kohlezeichnungen, der die systematische Ermordung der Juden in Eurropa thematisierte. Neben Bildern, die die Verfolgung eher indirekt zeigen, etwa in den Gruppen von Klagenden oder Flüchtlingen, gibt es auch sehr drastische Darstellungen, beispielsweise von Massenerschießungen oder Gaskammern.
In diesem Video stellt Moritz Urban, Guide am Jüdischen Museum Frankfurt, Meidners Holocaust-Darstellungen genauer vor.
Remigrant
1952 folgte Meidner der Einladung eines Freundes und besuchte Hamburg. Der freundliche Empfang, der ihm dort bereitet wurde und das Interesse, das man seiner Kunst entgegenbrachte, gaben wohl den Ausschlag für die Rückkehr. Im August 1953 kehrte Meidner endgültig wieder nach Deutschland zurück. Er ließ sich zunächst in Frankfurt nieder, wobei sich die Ortswahl eher aus praktischen Gründen ergab. Unter anderem war hier die Frage der Wiedergutmachung, die die hessische Landesregierung im Fall Meidners unbürokratisch regelte, von Bedeutung. Zudem hatte er die Möglichkeit, hier im Jüdischen Altersheim zu wohnen. Seine Frau Else Meidner lehnte die Rückkehr ins Land der Täter kategorisch ab und blieb in London.
Spätwerke Meidners
Das Jüdische Altersheim, in dem Meidner zunächst wohnte, befand sich in einem unzerstörten Gebäude des ehemaligen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde. Hier wurden nicht nur Senioren, sondern auch pflegebedürftige Überlebende von Konzentrationslagern betreut.
Meidner malte in seinen letzten Jahren nicht nur Porträts, sondern auch Landschaften und Stillleben. Oftmals wurden dabei auch die Zutaten seiner Mahlzeiten – Gemüse oder Fische – zu Motiven seiner Gemälde. Besonders eindrücklich sind hierbei die Stillleben mit Geflügel, in denen Meidner die Hühner oder Enten wirkungsvoll arrangiert. Diesen Bildern verleiht oft die Nacktheit des gerupften Vogelkörpers eine etwas makabre Note.
Ludwig Meidner war einer von sehr wenigen jüdischen Remigranten. Von den rund 300.000 Juden, denen es nach 1933 gelungen war, Deutschland zu verlassen, kehrten nach dem Krieg nur etwa 3% zurück.
Auf Vermittlung der Galeristin Hanna Bekker vom Rath zog Meidner 1955 nach Marxheim. Als das Leben im ungeheizten Atelier dort zu unkomfortabel für den alternden Maler wurde, vermittelte ihm der damalige Kulturdezernent eine Neubauwohnung in Darmstadt. Im Spätwerk Meidners finden sich zahlreiche Porträts junger Menschen, die Meidner gerne in seinem Atelier besuchten.
