Wilhelm Merton © Historisches Museum Frankfurt, Foto Horst Ziegenfusz

Wilhelm Merton als „Homo politicus“?

Eine Annäherung
02. November 2023Fedor Besseler

Wilhelm Mertons Vermächtnis als Homo politicus, als politisch handelnder Mensch, ist schwer zu fassen. Politische Positionierungen sind in seinen Reden, Schriften und Briefwechseln kaum vorhanden. Mangels expliziter Aussagen in Mertons Nachlass muss zwischen den Zeilen gelesen und Umwege in Kauf genommen werden. Fedor Besseler, Co-Kurator unserer aktuellen Wechselausstellung „Metall & Gesellschaft. #Wilhelm Merton“, versucht eine Annäherung.

Links- oder nationalliberal?

Wilhelm Merton und Franz Adickes in Tremezzo, Historisches Museum Frankfurt, Signatur: C21449_001

Die beiden besten Freunde und Weggefährten von Wilhelm Merton waren Oberbürgermeister Franz Adickes, der die Geschickte Frankfurts in den Jahren 1891 bis 1912 lenkte, und der Rechtsanwalt Henry Oswalt. Adickes war parteipolitisch neutral, tendierte aber in seiner Ausrichtung zu konservativen und nationalliberalen Positionen. Henry Oswalt, wie Merton vom jüdischen zum deutsch-reformierten Glauben übergetreten, war Stadtverordneter und später Abgeordneter im Preußischen Landtag für die Nationalliberale Partei. Mertons unmittelbare Vertraute sind somit im Parteienspektrum des Kaiserreichs als bürgerliche Liberale in Abgrenzung zum linksliberalen Demokratischen Verein und in Gegnerschaft zur Sozialdemokratie zu verorten. Sowohl Adickes als auch Oswalt befanden sich somit keineswegs in Opposition zum Bismarckschen Obrigkeitsstaat. Sein eigenes Verhältnis zu Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bismarck schildert Merton in den von ihm überlieferten autobiografischen Fragmenten:

Wilhelm Merton

Hatte sich doch auch in all den Jahren so manches zugetragen, das mich zu Deutschland hinzog: die Arbeiterversicherung, die Februarerlasse des Kaisers, die Arbeiterschutzgesetzgebung ferner so manch bedeutender Fortschritt in der privaten sozialen Tätigkeit und Gelingen meiner eigenen Arbeit auf diesem Gebiete.

Er bezieht sich positiv auf die beiden Staatsmänner, wenn diese ihre sozialpolitischen Bestrebungen intensivierten und den Brückenschlag zur Arbeiterbewegung versuchten. Als eine Art Verfassungspatriotismus avant la lettre kann das Zitat Mertons verstanden werden, wenn man bedenkt, dass Merton in dieser Passage seine zunehmende Identifikation als Deutscher beschreibt. Sein Patriotismus bezog sich auf den Sozialstaat und dessen Ausbau.

Komplizierter wird die Gemengelage, wenn der erweiterte Freundeskreis Mertons einbezogen wird. Der Philanthrop Charles Hallgarten etwa kann viel eindeutiger als Merton zu den Linksliberalen und Sozialreformern gezählt werden, wenngleich auch er Zeit seines Lebens keiner Partei beitrat. Ein weiterer Wegbegleiter war der Frankfurter Rechtsanwalt Ludwig Heilbrunn, der als Abgeordneter der Freisinnigen Volkspartei, die später in der dezidiert sozialliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) aufging, im Stadtparlament saß. Last but not least ist die Freundschaft mit dem Sozialdemokraten Max Quarck zu nennen. Obwohl Mertons Vorbehalte gegenüber den Sozialdemokraten nicht zu übersehen sind, schloss er eine punktuelle Zusammenarbeit keineswegs aus.

 

Berührungspunkte mit der Arbeiterbewegung: Merton und die „Soziale Praxis“

Michael Quast alias Wilhelm Merton © Katja Reich

Wer einmal eine Merton-Perfomance des Frankfurter Schauspielers Michael Quast verfolgt hat, erhält einen lebendigen Eindruck von den sprachlichen Charakteristika Wilhelm Mertons. Sein Jargon war von demjenigen der damaligen Sozialdemokratie kaum zu unterscheiden. Bemerkenswert ist der Gebrauch des Begriffs der „sozialen Klasse“, welchen Merton in vielen seiner Reden und Schriften benutzte. Geradezu klassenkämpferisch drückt sich Merton aus, als er die Gründung des Instituts für Gemeinwohl memorierte:

Wilhelm Merton

Ohne zu verkennen, dass sich, wie die Dinge nun einmal liegen, ein Ausgleich der scharfen sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze, welche unsere Zeit characterisieren, vermutlich nur auf dem Wege des Kampfes zwischen den verschiedenen Richtungen allmählich vollziehen wird, schien es mir die Aufgabe des Instituts für Gemeinwohl zu sein, sich möglichst abseits davon zu halten und dahin zu wirken, dass vor allen Dingen besseres Verständniss [sic] und erhöhtes Interesse, insbesondere innerhalb der besitzenden und machthabenden Klassen, für die wirtschaftlichen und sozialen Vorgänge erweckt werde.

Blätter für Soziale Praxis, Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg

Mertons Weltbild basierte auf der Annahme, dass die Gesellschaft durch verschiedene Klassen zusammengesetzt sei und dem Großbürgertum entsprechend eine besondere Verantwortung auferlegt sei. Zu diesem Befund kam der britische Historiker Werner E. Mosse bereits 1989, als er formulierte: „Merton’s ‚self-identification‘ then was not in religious or ethnic but essentially in ‚class‘ terms. It was an identification expressed primarily through his social concerns and his practical welfare activities.“

Wichtiger als religiöse oder nationale Zugehörigkeit war dem Frankfurter Großunternehmer die soziale Zugehörigkeit und damit einhergehend ein außergewöhnlich stark ausgeprägtes soziales Gewissen. Die sprachliche und habituelle Nähe zum sozialistischen und sozialdemokratischen Milieu wird noch unterstrichen durch die Herausgeberschaft der Wochenzeitung Blätter für soziale Praxis. Im Auftrag Mertons wurde diese 1893 gegründet, 1895 in Soziale Praxis umbenannt und 1897 in eine GmbH umgewandelt. Zunächst beauftragte Merton den Juristen Nathanael Brückner mit der Heraugabe der Zeitung, bevor der Sozialpolitiker Ignatz Jastrow diese Aufgabe übernahm. Die Soziale Praxis beinhaltete unter anderem die wöchentliche Rubrik „Arbeiterbewegung“ und bot den Leser:innen ein Panorama über sozialpolitische Neuerungen, Streiks und Arbeitskämpfe in aller Welt. Sämtliche namhaften Sozialreformer des wilhelminischen Kaiserreiches waren hier als Autoren versammelt. Genannt seien an dieser Stelle nur Lujo Brentano, Gustav Schmoller und Eduard Bernstein.

Doch Mertons Vorstellungen einer sozialpolitischen Zeitschrift gerieten zunehmend in Konflikt mit der sozialdemokratischen Ausrichtung des Herausgebers. In einem Schreiben von Wilhelm Merton an Ignaz Jastrow vom 1. Dezember 1897 rechnete er scharf mit dessen interventionistischem Stil ab:

Wilhelm Merton

Während ich z. B. den grössten Wert darauf legte, weder nach oben noch nach unten, weder rechts noch links zu sehen, haben Sie es nie über sich bekommen können, irgend welche Kritik an sozialdemokratische Kundgebungen zu knüpfen, so dass schliesslich die Soz. Praxis, die naturgemäss in sehr vielen Fragen der Praxis Gleiches wie die Sozialdemokratie befürwortete, den Character einer sozialdemokratischen Zeitung erhielt.

Folge des Konfliktes zwischen Merton und Jastrow war die Entlassung des Letztgenannten. Mit der Umwandlung der Sozialen Praxis in eine GmbH im Jahr 1897 wurde die Zeitschrift von der regierungstreuen Gruppe um Hans Hermann von Berlepsch übernommen und jeglichem sozialdemokratischem Einfluss entzogen.  Zusammenfassend betrachtet, suchte Merton immer wieder die Nähe zum sozialdemokratischen Milieu, grenzte sich dann aber wieder scharf ab. Ganz im Sinne Max Webers wollte er die sozialen Zustände untersuchen, die wirtschaftliche und politische Ordnung des Kaiserreiches jedoch nicht grundsätzlich in Frage stellen.

Merton und die Frauenbewegung

Programm des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M., Signatur: S9 Nr. 2011-100

Ein in der Forschung bislang unbeachtetes Thema ist das Verhältnis zwischen Merton und der deutschen Frauenbewegung. Wilhelm Mertons besten Jahre, als die Metallgesellschaft zu den weltweit führenden Unternehmen der Metallbranche aufstieg fällt zeitlich zusammen mit der Herausbildung der Frauenbewegung in den beiden Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Als Wissenschaftsmanager hatte Merton konzeptionell und finanziell gesehen großen Einfluss auf die Gründung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften (1901) und die Universität Frankfurt, die 1914 als erste Stiftungsuniversität Preußens ihren Betrieb aufnahm. In dieser Reihe darf aber das 1913 gegründete Frauenseminar für soziale Berufsarbeit nicht vergessen werden. Wilhelm Merton sorgte für die Anschubfinanzierung und holte die Sozialpolitikerin Rosa Kempf nach Frankfurt, die die Leitung des Seminars übernahm. Das Frauenseminar entwickelte sich zum Mittelpunkt für Frauenrechtlerinnen wie Jenny Apolant oder Marie Bernays. Ganz nach dem Geschmack Wilhelm Mertons schaute man bei der Ausbildung der Sozialarbeiterinnen über den disziplinären Tellerrand hinaus: Im Wintersemester 1917/18 wurden etwa Seminare zu „Platons Sozialethik“, „Grundzüge der neueren deutschen Sozialgeschichte“ oder „Die Entwicklung unserer Staats- und Gesellschaftsanschauungen seit dem 16. Jahrhundert“ angeboten.

Wohlfahrtskapitalist und Wissenschaftsmanager

Wilhelm Merton, Gemälde von Rudolf Gudden © Jüdisches Museum Frankfurt (Schenkung von Andrew H. Merton)

Der marxistische Sozialwissenschaftler Jürgen Schardt geht in seiner 2014 erschienen Schrift „Mythos Bürgersinn. Zur Gründungsgeschichte der Universität Frankfurt“ hart mit Merton ins Gericht. Sein Interesse für die soziale Frage und das Elend der Arbeiterschaft ziele letztlich auf die Optimierung betriebswirtschaftlicher Steuerung ab. Ob die Hypothese von Schardt zutrifft oder nicht sei hier dahingestellt. Doch trotz Mertons bis heute unübertroffenen sozialen Engagements für Frankfurt war er kein Progressiver im heutigen Sinne des Wortes. Was er für die Arbeiter, Armen und Unterprivilegierten tat, tat er im Rahmen seines wirtschaftlichen und sozialen Imperiums. Er gehörte zeitlebens keiner Partei an, trat weder in der Stadtverordnetenversammlung noch im Reichstag für seine Konzeption einer gerechten Gesellschaft ein.

Daher behält die Charakterisierung Mertons als „Wohlfahrtskapitalist“, wie ihn Werner E. Mosse 1989 bezeichnete, auch weiterhin ihre Gültigkeit. Merton war weder Sozialpolitiker noch Sozialreformer, auch wenn er der deutschen Sozialreform als Impulsgeber diente. Die Bedeutung Mertons als Homo politicus liegt vielmehr auf dem Gebiet der Wissenschaftspolitik. Seine ganze Energie, sein rastloser Tätigkeitsdrang war auf die Durchdringung und wissenschaftliche Erforschung der gesellschaftlichen Missstände gerichtet. Wilhelm Merton strebte wie Max Weber, den er erfolglos versuchte an die Universität Frankfurt zu holen, die „Entzauberung der Welt“ an. Das Großprojekt einer sozialwissenschaftlichen Rationalisierung der Gesellschaft jedoch verlor sich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges.

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